Kiel. Selbst wer ihn noch nicht lange kennt, merkt schnell: Karl-Martin Hentschel ist ein Überzeugungstäter. Er ist der Typus eines Grünen-Politikers vom alten Schlag, mit Ecken und Kanten. Seine Reden während der 13 Jahre im Landtag sind immer lautstark gewesen. Und er machte den Eindruck, als wolle er unbedingt mit dem Kopf durch die Wand – vor allem bei den großen Infrastrukturprojekten von A20 bis Fehmarnbeltquerung, die seine Partei so bekämpft.
Der Ex-Fraktionschef versucht, das Bild in einem Punkt zu korrigieren. „Natürlich war ich immer von unserer Programmatik überzeugt und habe sie im Landtag vertreten. Aber mir war klar, was kurzfristig umsetzbar ist und was nicht“, sagt der heute 65-Jährige. Nur wenn man die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich habe, könne man in den großen Fragen erfolgreich sein. Und das brauche seine Zeit.
So habe es bei der Atomkraft mehr als 30 Jahre gedauert, bis die Energiewende möglich wurde, sagt Hentschel. Der Stopp des A20-Baus etwa wäre damals – zu alten rot-grünen Zeiten – gar nicht möglich gewesen. Allerdings macht er Veränderungen aus. „Junge Leute in den Großstädten haben kein eigenes Auto mehr.“ Der grüne Ex-Spitzenpolitiker setzt beim Straßenbau auf eine ähnliche Entwicklung wie bei der Atomenergie. Er ist also nicht nur Überzeugungstäter, sondern manchmal auch Pragmatiker.
Ein Weggefährte, der ehemalige SPD-Fraktionsmanager Holger Astrup, beschreibt das so: „Als ich Karl-Martin 1996 kennenlernte, dachte ich ,Oh Gott, noch so ein durchgeknallter Grüner’. Aber in der täglichen Zusammenarbeit merkte ich, dass er bei aller Sturheit rechtzeitig erkennt, wenn er einen Kompromiss schließen muss.“
Hentschel ist Sohn eines Generals und von Beruf Mathematiker. Er leitet die Systemberatung in einem großen Verlagshaus, bevor er 1996 in den Landtag einzieht. Die Grünen werden damals aus der außerparlamentarischen Opposition direkt in eine Regierungskoalition mit der SPD katapultiert. Hentschel ist zunächst Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, von 2000 bis 2009 – mit kurzer Unterbrechung – Fraktionschef. Als er erneut auf dem Listenplatz vier für den Landtag kandidieren will, gibt es in einer Stichwahl zweimal ein Patt. Hentschel gibt auf. Auch ein Comeback-Versuch vor der Landtagswahl 2012 scheitert.
Doch als seine „bitterste Niederlage“ bezeichnet er ein politisches Ereignis, das eigentlich nur von regionaler Bedeutung ist. Die Sozialdemokraten wollen Anfang des Jahrtausends den Kieler Flughafen ausbauen, lassen sich nicht umstimmen. Der damalige Verkehrsminister Bernd Rohwer (SPD) gibt eine Machbarkeitsstudie in Auftrag, möchte das Raumordnungsverfahren einleiten. Die Grünen fürchten, dass von Holtenau aus Billigflieger nach Mallorca starten werden. Ihnen kommt die Kommunalwahl 2003 zu Hilfe. Das Kieler Rathaus wird schwarz-grün und die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Angelika Volquartz Oberbürgermeisterin. „Sie war bereit, den Flughafenbetrieb einzustellen. Mit ihr haben wir die SPD auf Landesebene ausgetrickst“, erzählt Hentschel freudestrahlend.
Das ändert nichts daran, dass er ein Rot-Grüner ist und das Regierungsbündnis, diesmal toleriert durch den SSW, auch nach 2005 fortsetzen möchte. Die Hoffnung wird durch den „Heide-Mord“ zerstört. Die Grünen müssen in die Opposition. In dieser Phase zeigt sich, dass Hentschel nicht nur ein Überzeugungstäter, sondern auch ein Optimist ist. „Wir mussten den Schalter umlegen“, sagt er. „Man kann die Welt aus der Regierung heraus verändern, aber auch aus der Opposition.“
Heute versucht er es mit außerparlamentarischen Aktivitäten in so genannten Nicht-Regierungsorganisationen. Er ist Gründungsmitglied des Netzwerkes „Attac“ und setzt sich insbesondere für die Regulierung der Banken sowie eine „adäquate Besteuerung“ von Finanzmärkten und Konzernen ein. Im Bundesvorstand der Organisation „Mehr Demokratie“ engagiert er sich für die „Kommunalisierung der Gesellschaft“ nach dem Vorbild Dänemarks und der Schweiz: Mehr Entscheidungskompetenz soll an die Basis verlagert werden.
Stolz ist er aber vor allem auf etwas, was nur in der täglichen Kleinarbeit gelingt. Als Kreischef der Grünen in Plön hat er die Mitgliederzahl seit der jüngsten Kommunalwahl um 30 auf knapp 180 steigern können. Sein Motto: „Natürlich engagieren sich Menschen aus Überzeugung, aber es muss auch Spaß machen.“