Zwischen Andacht und Nüchternheit

Große Fenster lassen viel Licht durch die Räume am Otto-Hahn-Platz direkt neben der Olshausenstraße. Der Kunststoffboden glänzt wie frisch gebohnert. Fast steril wirkt der Raum mit den glänzenden Vitrinen, in denen die Körperteile verwahrt werden wie kostbare Exponate einer Kunstausstellung. Diese Atmosphäre zwischen Andacht und Nüchternheit bewahrt damit auch den Respekt vor den Toten, die die Verwendung ihrer Körper zu wissenschaftlichen Zwecken testamentarisch verfügten. Rund 1200 Präparate aller anatomischen Bereiche des menschlichen Körpers lagern hier. 850 davon sind in der Dauerausstellung zu sehen, der Rest befindet sich im Magazin. Doch ein Museum ist die Anatomische Sammlung nicht, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Wer sie sehen möchte, auch Schulklassen oder andere Gruppen, muss vorher unter der Telefonnummer 0431-8802470 einen Termin vereinbaren. Für Medizinstudenten gehören Besuche der Sammlung zum Pflichtprogramm. Schließlich bildet die Anatomie ein Grundlagenfach ihrer Ausbildung. „Zeichnungen oder Fotos in Büchern geben Größenverhältnisse und Lage von Organen, Knochen oder Nerven nur unzureichend wieder. Deshalb bilden die Präparate der Anatomischen Sammlung unverzichtbares Anschauungsmaterial für die Studierenden“, erklärt der Direktor des Anatomischen Instituts, Prof. Jobst Sievers. Solche Anschauungsmöglichkeiten im Rahmen medizinischer Ausbildung sind fast so alt wie die Kieler Universität selbst. Bereits ein Jahr nach ihrer Gründung baute der damalige Professor der Theoretischen Medizin, Johann Daniel Major (1634-1693), im Jahr 1666 das erste „Theatrum anatomicum“ der neuen Universität auf. Die dort erstmals in Norddeutschland durchgeführten Sektionen von Leichen zum Tode verurteilter Menschen erregten Aufsehen. Vor allem den Theologen galt dies als verurteilungswürdiger Frevel. Der Universalgelehrte, der sich auch in Physik, Botanik, Archäologie und Kunstgeschichte bestens auskannte, leistete in Kiel noch weitere Pionierarbeit. 1688 gründete Major in seinem Privathaus in der Flämischen Straße 15 mit seinem „Museum Cimbricum“ das erste wissenschaftlich ausgerichtete Museum für eine breite Öffentlichkeit in Deutschland. Insofern gehört Johann Daniel Major nicht nur für die Kieler Universität zu den „Gründervätern“. Er war es auch, der die Grundlagen für den Aufbau einer Museumslandschaft in Kiel schuf. Erste Belege für die Existenz einer nennenswerten Anatomischen Sammlung liefern zeitgenössische Dokumente für die Zeit am Ende des 18. Jahrhunderts. Der seit 1793 als Professor für Anatomie und Chirurgie an der CAU wirkende Johann Leonhart Fischer nutzte dafür ein Universitätsgebäude an der Kattenstraße. Bereits im Jahr 1796 wurden 292 Objekte der Sammlung registriert. Nach der Umsiedlung von Anatomie und Zoologie in den Warleberger Hof im Jahre 1839 wurden dort von Friedrich Wilhelm Behn im Erdgeschoss zwei Sammlungsräume für anatomische Präparate eingerichtet. Das von Gropius und Schmieden entworfene, 1881 bezogene Institut im Bereich des Klinikgeländes hatte einen vergleichsweise großen Sammlungsraum. Über Umfang und Qualität der Exponate liegen jedoch keine Angaben vor. Institut und Sammlung fielen den Bomben am Ende des Zweiten Weltkrieges vollständig zum Opfer. Erst nach der Berufung des damaligen Direktors des Anatomischen Instituts, Prof. Bernhard Tillmann, begann ab 1977 der Neuaufbau der Sammlung. Auf rund 250 Quadratmetern umfasst sie heute acht Bereiche: Vergleichende Anatomie, Anthropologie, Embryologie, Bewegungsapparat, Innere Organe, Zentralnervensystem, Sinnesorgane sowie Topographische Anatomie. „Unsere Sammlung gehört zu den wenigen in Deutschland, deren Bestand in Zusammenarbeit mit zwei Präparatoren im Haus immer noch weiter wächst“, erläutert Jobst Sievers. Allerdings sind dem Wachstum Grenzen gesetzt: Denn schon jetzt reicht der Platz kaum aus, um alle Objekte zu zeigen.

350 Jahre CAU Kiel - Zwischen Andacht und Nüchternheit