Bewegende Zeiten

April 1967: Die Große Koalition wird noch immer von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger geführt. Seine frühere Mitgliedschaft in der NSDAP mobilisiert immer mehr Studenten zu Protesten. In Schleswig-Holstein ist die unzulängliche deutsche Vergangenheitsbewältigung besonders aktuell: Bei den Landtagswahlen stehen sich die Spitzenkandidaten Helmut Lemke (CDU) und Jochen Steffen (SPD) gegenüber. Man kennt sich aus der NS-Zeit: Lemke, der ab 1933 NS-Bürgermeister in Eckernförde und später in Schleswig gewesen war, hatte den Gefreiten Steffen als „im Sinne des Nationalsozialismus nicht zuverlässig“ eingestuft und öffentlich NS-Ideologie und Führerprinzipien verteidigt. Lemke wird 1967 dennoch Ministerpräsident. Außerdem ziehen vier NDP-Abgeordnete in den Landtag ein. Viele Studenten sind empört: Sie recherchieren in der Vergangenheit von Politikern, Richtern, Staatsanwälten, Polizei-Oberen, aber auch von Professoren und verteilen die Ergebnisse in Form von Heftchen. So brandmarken Theologiestudenten antisemitische Äußerungen ihres Professors Martin Redeker: Er hatte 1955 sein Amt als Rektor der Universität aufgrund antisemitischer Äußerungen nicht angetreten. Auch anderen Professoren der juristischen und medizinischen Fakultät wird eine braune Vergangenheit vorgeworfen. 2. Juni 1967: Während der Anti-Schah-Demonstration in Berlin wird der Student Benno Ohnesorg erschossen. Auch in Kiel gehen die Emotionen hoch, es kommt zu Protestveranstaltungen und einem Trauermarsch, an dem sich Studentenorganisationen unterschiedlicher politischer Couleur beteiligen. In der Studentenzeitschrift „res nostra“ wettert ein Vorstandsmitglied des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) gegen die „brutale Unterdrückung“ der Demonstranten und deren „Verteuflung durch die sogenannte, zum großen Teil gesteuerte öffentliche Meinung“. 13. Juni 1967: Das „Kieler Aktionskomitee“ wird gegründet. Es soll eine Gegenöffentlichkeit schaffen, soll aufklären über die Berliner Ereignisse und andere Fälle, in denen Meinungs- und Demonstrationsfreiheit verletzt werden. Man will gegen die drohenden Notstandsgesetze mobilisieren, aber auch ein wenig die Welt retten, indem man über die politischen Verhältnisse etwa in Persien, Vietnam und Griechenland aufklärt. Streiks, Besetzungen und Demonstrationen prägen zunehmend den Alltag an der CAU. Vorlesungen von Professoren werden gezielt durch „Go-ins“ gestört. Auf Vollversammlungen diskutieren aber auch einige Professoren und Mitarbeiter mit, unterstützen zum Teil die Forderungen der Studenten nach mehr Demokratie an der Universität: Die konstante Reformverweigerung vieler Ordinarien wird für die schwierigen Studienbedingungen an der CAU verantwortlich gemacht. 31. Januar 1968: Die Studenten protestieren mit 2000 Jugendlichen gegen höhere Fahrpreise bei den Kieler Verkehrsbetrieben. Anschließend blockieren etwa 500 Demonstranten den Straßenbahnverkehr am Berliner Platz. In den folgenden Tagen gibt es immer neue Demonstrationen. Ein Teil der Teilnehmer provoziert die Polizei, um „das autoritäre Gerippe des Staates“ zu entlarven. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Gummiknüppel ein. 30. Mai 1968: Eine Großdemo gegen die Notstandsgesetze zieht zum Rathausplatz. Wortführer sind der Juso und spätere Kieler Oberbürgermeister Norbert Gansel und der Pädagoge Klaus Mollenhauer. Trotz bundesweiter Proteste verabschiedet der Bundestag die Notstandsgesetze. In Kiel richtet sich der Kampf jetzt gegen das geplante Ordnungsrecht – die Studenten sollen mit Strafen bis hin zur Exmatrikulation diszipliniert werden – und das geplante Hochschulgesetz. Die Uni soll ihre Autonomie verlieren, der Rektor weitgehend entmachtet, ein leitender Verwaltungsbeamter eingesetzt werden. Als Zuckerbrot sollten die Studenten 20 Prozent der Sitze in Konsistorium, Senat und den Fakultäten erhalten. Doch die Studenten fordern die Drittelparität. Als die auch im neuen Gesetzentwurf 1969 nicht vorgesehen ist, rufen die Studenten im Juni den Streik aus. 3. Juni 1969: Professor Michael Freund verbarrikadiert sich mit Studenten und Mitarbeitern im politikwissenschaftlichen Institut, um trotz Streiks ein Seminar abzuhalten. Daraufhin besetzen am 5. Juni 200 Studenten mit Gewalt das Institut, nennen es um in Karl-Marx-Institut. Der Rektor lehnt jeden Polizeieinsatz ab. Einen Tag später ziehen die Besetzer ab. Entgegen seiner Zusage zeigt der Rektor 17 Studenten wegen Hausfriedensbruchs an. Die Verfahren werden 1970 eingestellt. 9. Juni 1969: Im Audimax geht es erneut um die Grundsatzfrage: Ist Gewalt ein legitimes Mittel? Man beschließt, friedlich zu bleiben und zieht zu Tausenden zum Landeshaus, das mit bewaffneten Polizisten, Wasserwerfern und Nato-Stacheldraht einer Festung gleicht. Ein KN-Journalist berichtet später, bewaffnete Polizisten hätten ohne Anlass und Vorwarnung Wasserwerfer gegen die Studenten eingesetzt. Studenten sprechen von der „Schlacht ums Landeshaus“. Die Studentenbewegung zersplittert zunehmend. Im Wintersemester 1969/70 ist sie keine Massenbewegung mehr. In Bonn übernimmt die sozialliberale Koalition.

350 Jahre CAU Kiel - Bewegende Zeiten