Corona in Kiel: Debatte um "Ein-Freund-Regel" für Kinder

Wer ist mein bester Freund? Diese Frage müssen sich Kinder und Jugendliche vielleicht schon bald stellen. Der Grund: die Bundesregierung möchte stärkere Kontaktbeschränkungen. Und während die Kinder sich morgens noch zusammen in Kita oder Schule sehen, sollen sie in ihrer Freizeit nur noch einen festen Freund treffen dürfen. Freund-Casting in Corona-Zeiten. Geht das zu weit? Kita in Kiel: Eltern lehnen Vorschlag der Bundesregierung ab: „Ja“, ist die eindeutige Antwort, zumindest von einigen Eltern, die ihre Kinder am frühen Nachmittag von der Kita „Die Klimperkiste“ in der Vorstadt in Kiel abholen. Hier backen die Kinder draußen im Sand gemeinsam Sandtörtchen. Zu Hause müssten sie sich nach der „Ein-Freund-Regel“ aber entscheiden, mit wem sie am liebsten weiterbacken wollen. „Es wäre total schwer, das den Kindern zu erklären“, sagt Josephine Schweitzer. Ihre Tochter Luise konnte im Frühjahr ihren dritten Geburtstag nicht mit Freunden feiern – jetzt kommt vielleicht der nächste Einschnitt. Luise hat noch einen Bruder, er geht schon in die Grundschule. Anderes Alter, andere Freunde. Aber was passiert, wenn sich beide mit jeweils einem Freund treffen wollen? Plötzlich wären drei verschiedene Haushalte involviert – in Corona-Zeiten ein No Go. Die Schweitzers haben immerhin das Glück, dass ihre Kinder mit Geschwistern einer anderen Familie befreundet sind. "Ein-Freund-Regel" wird kommende Woche erneut diskutiert: Die „Ein-Freund-Regel“ war auch bei der Videokonferenz der Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) umstritten. Merkel, die mit dem Vorschlag im Vorfeld vorgeprescht war, kam damit vorerst bei den Länderchefs nicht durch. Die Idee mit dem „festen Freund“ – sie bleibt zunächst eine Idee. Vom Tisch ist sie aber noch nicht. In der kommenden Woche wird dieser Vorschlag in der gleichen Runde wieder diskutiert werden. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) kritisierte den Vorschlag im Interview mit unserer Zeitung. „Mit einer solch harten Regelung Kinder und Jugendliche dazu zu zwingen, unter den besten Freunden eine Auswahl zu treffen, geht an der Lebensrealität so stark vorbei, dass man darüber noch einmal nachdenken muss.“ Für ein Niedrig-Inzidenz-Land wie Schleswig-Holstein sei diese Regel nicht gerade ein Königsweg. Lesen Sie auch: Günther warnt erneut vor zu vielen Kontakten Vorschlag der Bundesregierung lässt viele Fragen offen: Auch Jana Lindemann hält nichts von der Idee, dass ihr einjähriger Sohn sich einen Freund heraussuchen muss. „In dem Alter wechseln die guten Freunde auch noch öfter, es ist schwer, sich da festzulegen“, sagt sie. Das sei nicht nur eine komplizierte Entscheidung, sondern anderen Kindern gegenüber auch unfair. An sich seien die Corona-Maßnahmen richtig, aber die „Ein-Freund-Regel“ schwer umsetzbar. Wer soll am Nachmittag auf die Kinder aufpassen, wenn ein wichtiger Termin ansteht? Die Familie des „festen Freundes“? Und wenn die keine Zeit hat? Viele offene Fragen, weswegen Lindemann eine verpflichtende Regel ablehnt und lieber auf die Vernunft der Eltern setzen möchte. Corona-Krise nimmt Einfluss auf Psyche der Kinder: Dazu kommt, dass weitere Kontaktbeschränkungen für Kinder auch langfristige negative Folgen haben könnten. Die Corona-Krise nimmt möglicherweise Einfluss auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen, das deutet sich bereits an. Laut einer repräsentativen Homeschooling-Studie der DAK-Gesundheit war rund ein Viertel aller Schulkinder im Frühjahr 2020 oft oder sehr oft traurig. Für die Studie wurden Kinder und Jugendliche direkt nach dem ersten Lockdown befragt. „Die Schulschließungen im Frühjahr 2020 haben das Leben der Kinder und Jugendlichen von jetzt auf gleich verändert“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Hanewinkel vom Institut für Therapie und Gesundheitsforschung Nord. „Es spricht Vieles dafür, dass die mit der Pandemie einhergehenden Einschränkungen und Veränderungen des täglichen Lebens das Risiko für das Auftreten psychischer Auffälligkeiten erhöht.“ Geringe Infektionszahlen an Kitas und Schulen in Kiel: Diese Gefahr sieht auch Kiels Bildungsdezernentin Renate Treutel. „Kinder brauchen Kinder. Je länger diese Kontakteinschränkungen andauern, desto beeinträchtigender ist es für ihre Entwicklung.“ Zu der „Ein-Freund-Regel“ äußert sich Treutel zwar nicht konkret, setzt sich aber stark dafür ein, dass Schulen und Kitas geöffnet bleiben. Dies sei auch aus Sicht der Neuinfektionen vertretbar. Seit den Herbstferien haben sich in Kiel nur sechs von rund 10.000 Kita-Kindern angesteckt, bei den etwa 33.000 Schülern gab es im gleichen Zeitraum 34 Corona-Fälle. Überschaubare Zahlen – zumindest in Kiel. Deutschlandweit ist die Lage ernster: Das Robert-Koch-Institut (RKI) spricht von mehr als 10.000 Infektionen bei Kindern unter 14 Jahren – allein in der ersten Novemberwoche. Anfang September war der Wert noch zehnmal niedriger. Ob die “Ein-Freund-Regel“ daran etwas ändern könnte, bleibt umstritten. „Die Kinder spielen hier in der Kita alle zusammen. Dass sie sich danach für einen Freund entscheiden müssen, ist nicht gerade logisch“, sagt Jana Lindemann. „Deutschland sucht den Super-Freund“ – auf diese Show möchten viele Eltern und Kinder dann doch lieber verzichten. Von Jonas Bickel und Johanna Lehn