Corona in Kiel und St. Nicolai : Die Verantwortlichen des Heims im Gespräch

Ein Gespräch mit Heinrich Deicke, Geschäftsführer des Trägers Diakonie Altholstein, Benjamin Seidel, verantwortlich für den Bereich Senioren und Pflege, sowie Heimleiterin Yulia Schwarz. Frau Schwarz, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Ihnen klar wurde, dass sich das Virus in Ihrem Altenheim ausgebreitet hat? Yulia Schwarz: Es war ein Sonntag, als mich eine Mitarbeiterin anrief und mir von dem positiven Test berichtete. Ich war geschockt. Im nächsten Moment aber stellte ich mir die praktischen Fragen: Was ist nun zu tun, was hat das für Konsequenzen für uns? Wir haben sofort die Türen unserer Einrichtung verschlossen. Niemand sollte sich von draußen bei uns anstecken. Was passierte dann? Yulia Schwarz: Ein großer Teil unseres Personals wurde in den folgenden Tagen ebenfalls positiv getestet. Wir sind sehr schnell in die Situation gekommen, dass wir mit sehr wenig Personal dastanden und uns die Frage stellen mussten: Wie versorgen wir jetzt unsere Bewohner? Zu dem Zeitpunkt hatten Bewohner keine bis milde Symptome. Schwere Verläufe wurden erst eine Woche später deutlich. Lesen Sie auch: Fast 89 Prozent der Corona-Toten in Schleswig-Holstein kommen aus Pflegeheime Die Arbeit in der Altenpflege stand auch vor dem Coronavirus nie in Verdacht, die Pflegekräfte zu unterfordern. Was bedeutete dieser Ausbruch für das Personal? Yulia Schwarz: Wir sind alle über unsere Grenzen gegangen und haben das private Leben vollkommen zurückgestellt. Alle, die sonst im Administrativen tätig sind, aber eine Pflegeausbildung haben – mich eingeschlossen –, halfen ab diesem Tag in der Pflege. Alle anderen teilten Essen aus oder unterstützten an anderen Stellen, kaum einer saß noch im Büro. Das ging eine Woche so, viele haben Früh- und Spätdienst hintereinander geleistet. Zugleich forderte das Gesundheitsamt von uns, dass wir Symptomlisten ausfüllen, Kontakte von Infizierten nennen und Daten der Bewohner übermitteln. Zum Glück kamen nach einer Woche externe Pflegekräfte zur Unterstützung, ein in sich geschlossenes Team von etwa zehn Personen, das auf Corona geschult war. Die physische Belastung ist das eine. Wie haben Sie und Ihre Mitarbeiter dieses Schreckensszenario mit inzwischen 14 Todesfällen psychisch verarbeitet? Yulia Schwarz: Erst als die Nachricht vom ersten Todesfall eintraf, kam die Sorge in den Köpfen aller an. Da war plötzlich die Erkenntnis: Das war noch gar nicht das Ende, jetzt geht es erst richtig los! Zuvor hatten wir noch die Hoffnung, dass wir es noch ohne große Verluste in den Griff bekommen. Zeit für Gefühle aber hatten wir damals nicht. Wir haben verdrängt und funktioniert. Die Gefühle kommen erst jetzt hoch. Welche Gefühle sind das? Yulia Schwarz: Traurigkeit, Mitgefühl mit denen, die Angehörige oder Freunde verloren haben. Wir kannten unsere Bewohner zum Teil sehr gut und lange. Hinter jedem Mensch steht eine Geschichte. Ich denke etwa an eine ganz tolle Frau, eine ehemalige Lehrerin, die für meine Kinder noch Rechtschreibübungen aufgeschrieben hat. Wie weit ist die Ursachenforschung gut sieben Wochen später fortgeschritten? Yulia Schwarz: Wir wissen nicht, wer das Virus hineingebracht hat. Es kann jeder sein, die Mitarbeiterin war nur die Erste, die es gemerkt und gemeldet hat. Einige meiner Kolleginnen haben die Vorgaben übertrieben befolgt, weil sie selbst große Angst hatten zu erkranken, und trotzdem sind sie erkrankt. Selbst das penible Befolgen der hygienischen Vorschriften gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Ich selbst habe am Bett von infizierten Bewohnern gestanden und bin nicht erkrankt. Andere Kollegen, die genau neben mir mit der gleichen Kleidung und der gleichen Maske am Bett gestanden und die anschließend ihre Hände desinfiziert haben, sind erkrankt. Wie soll man das analysieren? Heinrich Deicke: Wir haben die Regeln vor dem Ausbruch so strikt eingehalten, dass sich Angehörige von Bewohnern sogar darüber beschwert haben. Es wäre dennoch vermessen, wenn wir behaupten würden, wir hätten keine Fehler gemacht. Es ist aber zu früh, um die Geschehnisse zu analysieren. Die Erschöpfung ist noch zu groß. Wir werden uns aber mit etwas mehr Abstand die Sache anschauen, ob der Ausbruch vermeidbar gewesen wäre. Lesen Sie auch: So wies der Diakonie-Chef schnelle Schuldzuweisungen zurück Haben Sie dennoch schon Lehren ziehen können? Heinrich Deicke: Wir appellieren besonders, dass die Hygieneregeln nicht nur in der Einrichtung eingehalten werden, sondern auch im Privaten. Jeder muss sich selbst fragen, ob er oder sie genügend zum Schutze beiträgt. Benjamin Seidel: Man darf eins nicht vergessen: Wir waren die erste Alten- und Pflegeeinrichtung in Kiel, die von einem Ausbruch betroffen war. Das hat für alle Seiten – für uns, aber auch die Behörden – einen neuartigen Prozess bedeutet. Wir alle waren theoretisch darauf vorbereitet, haben versucht, alles zu bedenken, um diese Situation abzuwenden, und doch war es ein neuer Vorgang, der bedeutete: learning by doing. Wir haben an jedem Tag dazugelernt und nachjustiert. Heinrich Deicke: Ich bin auch deshalb weit davon entfernt, Mitarbeitende oder Angehörige für diesen Ausbruch verantwortlich zu machen. Wenn wir das alles so genau lokalisieren könnten, hätten wir diese Pandemie nicht. Was tun Sie heute in der Einrichtung St. Nicolai, damit sich solch ein Drama nicht wiederholt? Heinrich Deicke: Wir befinden uns noch immer in einer bedrohlichen Lage. Das Problem für uns ist häufig die Verunsicherung von außen. Das Robert-Koch-Institut sagt dies, andere Virologen sagen jenes, die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten entscheiden gemeinsam, und in derselben Nacht erklären einzelne Ministerpräsidenten, warum sie einen anderen Weg gehen. Die Sache mit dem Schnelltest ist das beste Beispiel: Sollen wir testen, sollen wir nicht? Die Informationen, die uns dazu erreichen, sind widersprüchlich. Es melden sich einfach zu viele Stimmen. Wir müssen unseren Weg finden. Yulia Schwarz: Ich habe selbst mehrmals erlebt, dass Schnelltests in beide Richtungen falsch lagen. Das Testen belastet uns personell sehr stark, wir haben die Kapazitäten nicht. Trotzdem testen wir derzeit zweimal wöchentlich alle Mitarbeiter, zudem kommt ein weiteres Mal das mobile Testteam. Auch die Besucher testen wir. Benjamin Seidel: Das Testen wird auf dem Rücken der Pflegeheime ausgetragen. Wir werden verpflichtet, Schnelltests anzubieten – und falls wir es personell nicht leisten können, dürfen die Bewohner keinen Besuch empfangen. Kein Träger aber will, dass sich seine Bewohner einsam fühlen. Frau Schwarz, wie ist derzeit die Situation in Ihrer Einrichtung? Yulia Schwarz: Die letzte Bewohnerin, die positiv war, darf jetzt auch die Quarantäne verlassen. Bei den Mitarbeitern ist die Lage eine andere: Einige sind wieder zurück, aber sechs, sieben Mitarbeiter sind noch nicht im Dienst, weil sie Komplikationen haben. Ihre Körper waren nach der Erkrankung so schwach, dass sie sich nach wenigen Arbeitstagen wieder abgemeldet haben. Eine Kraft hat Herzrhythmusstörungen, eine andere sogar Gedächtnisprobleme. Sind denn mittlerweile alle Bewohner und Pflegekräfte in St. Nicolai geimpft? Benjamin Seidel: Leider nicht. Es gibt epidemiologische Erkenntnisse darüber, dass Menschen, die Infektionen erst kürzlich durchlaufen haben, nicht zu früh geimpft werden sollten. So soll eine heftige Immunreaktion vermieden werden. Deshalb müssen wir und andere Pflegeeinrichtungen in Kiel noch abwarten. Hat das und der Ausbruch Folgen für die Bettenbelegung? Heinrich Deicke: Wir haben derzeit einen erheblichen Leerstand, nur 109 von 134 Betten sind belegt. Das stellt uns wirtschaftlich vor große Herausforderungen. Wir müssen nach dem Ausbruch zunächst um Vertrauen werben, damit unsere Zimmer wieder belegt werden. Yulia Schwarz: Seit Beginn der Pandemie verzeichnen wir weniger Anfragen, das hat nichts mit uns zu tun. Früher hatten wir jeden Tag fünf, sechs Anfragen von Krankenhäusern, seit das Coronavirus grassiert, gab es Wochen, in denen wir das Gefühl hatten, wir müssten einmal pro Woche im Krankenhaus anrufen und nachfragen, ob es Bedarf gibt. Das hat damit zu tun, dass viele ihre pflegebedürftigen Angehörigen in dieser Zeit nicht ins Heim geben wollten – in der Sorge, dass sie sich dort eher anstecken als zu Hause. Wie schauen Sie auf die kommenden Monate – mit Sorge oder Optimismus? Yulia Schwarz: Mit beidem. Ich sage zu meinem Team immer: Nach dem Corona-Ausbruch ist vor dem Corona-Ausbruch. Wir sind nicht geschützt davor, nur weil es uns schon einmal erwischt hat. Ich hoffe aber, dass uns so etwas nie wieder passiert – und wenn doch, weiß ich, dass ich ein Team habe, das handelt, ohne zu diskutieren, ohne zu jammern. Das alles tut, damit die Situation wieder gut wird. Das gibt mir ein gutes Gefühl.