Deutsch-Deutsche Geschichten: Aus Güstrow in die Welt

Dabei waren die Ausgangsvoraussetzungen in Ribnitz-Damgarten zunächst gut. „Mutter und Vater waren im VEB Faserplattenwerk beschäftigt. Ich war also ein richtiges Arbeiterkind, so wie es die Staatsideologie vorsah“, sagt der heute 56-Jährige. Seinem Berufswunsch stand deshalb nichts im Wege. „Ich wollte zur Handelsschifffahrt. Das war für mich die einzige Chance, die Welt zu sehen, die einem als DDR-Bürger sonst verschlossen blieb.“ Michael Schmidt verlässt also die zehnte Klasse der erweiterten Oberschule, um ein duales System à la DDR zu nutzen: eine Lehre kombiniert mit der Oberstufe. Nach drei Jahren ist er Vollmatrose der Handelsschifffahrt mit Abitur. Dann kommt die Militärzeit. Zweimal wird er angesprochen. Man brauche jemanden, der über die Stimmung in der Truppe berichte. „Die Staatssicherheit suchte Spitzel. Aber ich habe gesagt, das sei nichts für mich.“ Einen Studienplatz bekommt Schmidt trotzdem. „Allerdings erst, nachdem man zu Hause in der Nachbarschaft über mich Erkundigungen eingezogen hatte.“ Sein Studium an der Ingenieurhochschule für Seefahrt in Warnemünde und Wustrow beendet er als Diplomingenieur mit Großem Kapitänspatent. Doch, so ist unmissverständlich klar gemacht worden, ohne Parteibuch der Sozialistischen Einheitspartei SED wird er nie als Kapitän zur See fahren. Um SED-Anwerbungsversuche zu unterbinden, tritt Schmidt in eine andere Blockpartei ein: die National-Demokratische Partei Deutschlands. Nach der Wende wird sie in der gesamtdeutschen FDP aufgehen. Ab 1984 fährt er zunächst als 3., dann als 2. Nautischer Offizier auf der Handelsflotte der DSR (Deutsche Fracht See-Reederei). Michael Schmidt, inzwischen in Güstrow verheiratet, fährt auf einem Stückgutschiff nach West- und Ostafrika, auch ins Mittelmeer, transportiert mal Lkw, mal Baumaschinen, auch mal 5000 Tonnen Mehl. Zurück geht’s oft mit Tropenholz und Gebrauchsholz. „Das war aber nicht für die DDR bestimmt, sondern die Fracht haben wir in Bremen, Hamburg oder Holland gelöscht.“ Wenn irgendwie möglich, nutzt er das für Landgänge. Die sind nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt: nie allein gehen, vor 24 Uhr wieder an Bord sein, keine Kontakte zum Klassenfeind. Zweimal erlebt Schmidt, wie Kollegen die Fahrt zur Flucht nutzen. Einmal springt jemand in der Kieler Schleuse von Bord, ein anderes Mal kehrt jemand vom Landgang in Hamburg nicht zurück. Hat er selbst das nie in Betracht gezogen? „Ehrlich gesagt nein. Ich konnte mir nie ein Leben ohne meine Frau und unsere beiden Töchter vorstellen. Abgesehen davon hat uns ein Kapitän mal gesagt, dass immer zwei von der Mannschaft zur Überwachung angeheuert sind – einer von der Stasi und einer vom Zoll. Wer das war, ahnte man natürlich nur.“ Die Familie besaß kein eigenes Telefon, durfte aber das Telefon einer Nachbarin in dem Plattenbau nutzen. Im Sommer 1989 muss Schmidt aber nicht mit seiner Frau Astrid telefonieren. Sie darf mitfahren – sechs Wochen nach Afrika. Die beiden Kinder bleiben bei den Großeltern, als Pfand. „Damals spürte man, dass sich etwas zusammenbraute. Aber an Bord bekamen wir kaum Informationen.“ Als das Paar zurückkommt, heizt sich die Stimmung immer mehr auf, die Proteste nehmen zu. „Mir war schon länger klar, dass die DDR nicht mehr lange existieren konnte.“ Als es soweit ist, ist Michael Schmidt an Bord im Rostocker Hafen: Die Crew macht das Schiff gerade fertig zum Auslaufen, und wie üblich ruft der Kapitän noch einmal alle zusammen. „Diesmal aber sagte er etwas anderes als sonst: ,Wer vorhat, in der Kieler Schleuse abzuspringen, der braucht sich dieser Gefahr nicht mehr aussetzen. Der sollte sich jetzt in den Zug setzen und rüberfahren“. Es sei aber keiner gegangen. Als sie spät abends in Hamburg anlegten, war die Reeperbahn voll mit Trabis und Wartburgs und hinter vielen Scheibenwischern klemmten Blumen. Während Schmidt durch Hamburg läuft, geht seine Frau mit den Kindern durch Lübeck. „Uns war beiden klar, dass sich jetzt das Leben grundsätzlich ändern würde, aber durch meine Reisen wusste ich, dass sich jetzt nicht das Paradies öffnen würde.“ Die Familie ist sich einig: Wir bleiben in Güstrow. Der Familienvater aber will die Chance nutzen, endlich als Kapitän auf große Fahrt zu gehen. 1991 wechselt er zu einer Hamburger Reederei. Doch dann verändert sich in Güstrow die Atmosphäre. „Die Plattenbausiedlung entwickelte sich zum sozialen Brennpunkt. Irgendwann haben wir uns nicht mehr sicher gefühlt.“ 1994 zieht die Familie nach Kiel, wenige Monate später wird Michael Schmidt Terminalleiter bei Cellpap im Ostuferhafen. „Als Kapitän war ich ja nun gefahren. Nun wollte ich mehr mit meiner Familie zusammen sein.“ 2003 wechselt er zum Seehafen, 2011 wird er Hafenkapitän. Freunde aus der DDR-Zeit hat er immer noch. Aber auch neue Freunde in Schleswig-Holstein gewonnen. „Ich fühle mich nicht als Ost- oder Westdeutscher, sondern als Norddeutscher.“

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