Fritz Castagne in Kiel: Seit 220 Jahren werden hier Bücher per Hand hergestellt

Faust und Münchhausen, Anna Karenina und die Schneekönigin - viele solcher literarischen Persönlichkeiten waren schon bei Stefanie Tönnis zu Gast und wurden für die Nachwelt gerettet. Meist tauchten sie in teuren Erstausgaben auf, hatten Eselsohren, eingerissene Ledereinbände oder hässliche Wasserflecken. Für Stefanie Tönnis ist das alles kein Problem. Die Buchbinderin sorgt dafür, dass antike Bücher wieder in ihren Urzustand zurückversetzt werden. Doch nicht nur das. Ein Besuch in einer der letzten Buchbindereien Schleswig-Holsteins. Paradiesische Stille in der Buchbinderei Fritz Castagne in Kiel: Kaum fällt die Eingangstür der Buchbinderei Fritz Castagne ins Schloss, herrscht paradiesische Stille. Von der Hektik und dem Trubel der Kieler Innenstadt ist nichts zu spüren. Obwohl die Holstenstraße nur eine Querstraße entfernt ist. An einem der großen Arbeitstische im offenen Verkaufsraum zaubert Auszubildende Moiken Petong (25) gerade aus vielen losen Zetteln, Filz und Pappe einen Zettelblock. Neben ihr heftet Gesellin Anna Lorenz (30) mit der Nadel einzelne leere Blätter zu einem Buch zusammen. „Meine Freunde wundern sich immer, dass ich so gerne zur Arbeit gehe“, sagt Moiken Petong lachend. „Ich hab’ hier meinen Traumjob gefunden.“ Lebenserinnerungen werden zu persönlichen Büchern: Die Chefin Stefanie Tönnis (52) ist derweil an der Stirnseite hinter bunten Bögen von Geschenkpapier, handgemachten Briefkarten und hochwertigen Holzstempeln verborgen. Hier erschafft sie gerade aus einer zauberhaften Kindergeschichte ein hochwertiges Buch. Einst hatte eine Großmutter die Geschichte für ihre Enkelin geschrieben und gezeichnet und die einzelnen Blätter mit einer Spiralheftung in die richtige Reihenfolge gebracht. Nun soll daraus ein ganz persönliches Buch werden. Jahrhundertealte Maschinen helfen dem Buchbinder noch heute: „Solche Aufträge bekommen wir ganz oft“, erzählt Stefanie Tönnis. Familiengeschichten, Erinnerungen oder schriftstellerische Gedanken sollen auf diese Weise für die Nachwelt erhalten bleiben. Auch Diplom- oder Doktorarbeiten werden häufig abgegeben. Drei Buchpressen in verschiedenen Größen, eine Fadenheftmaschine, eine Schneidemaschine und die ein oder andere weitere antike Maschine helfen den drei Frauen bei den Aufträgen. „Die stammen noch aus den Anfangszeiten“, sagt die Chefin. Buchbinderei Castagne ist der drittälteste Handwerksbetrieb in Schleswig-Holstein: Seit nunmehr 220 Jahren gibt es die Buchbinderei Castagne. Damit ist sie der drittälteste Handwerksbetrieb in Schleswig-Holstein. Damals war Johann Friedrich Castagne aus Anklam als Wandergeselle nach Kiel gekommen. Er war so begeistert von der Stadt, dass er blieb. Im Dezember 1800 gründete er die Buchbinderei Castagne. Sechs Generationen führten den Betrieb anschließend in die Zukunft. 100 Jahre davon war der Sitz in der Dänischen Straße in Kiel, bis der letzte Inhaber, Fritz Castagne, 1997 in die Faulstraße zog, wo das Geschäft nach wie vor zu finden ist. Als der heute 84-Jährige 2001 in den Ruhestand ging, wurde seine ehemalige Auszubildende und spätere Mitarbeiterin Stefanie Tönnis die Nachfolgerin. Der Ausbildungs-Mindestlohn macht es nicht einfacher: „Ich habe es nie bereut“, sagt sie. Auch wenn die Zeiten nicht immer leicht seien. Derzeit mache ihr vor allem der Ausbildungs-Mindestlohn zu schaffen. „Der ist eine gute Sache“, sagt sie. „Wir sind die einzigen, die in Schleswig-Holstein noch ausbilden. Die Kosten dafür müssen erwirtschaftet werden. Aber bei öffentlichen Ausschreibungen bekomme ich oft nicht den Auftrag, weil ich dadurch teurer bin als meine Mitbewerber.“ Als junge Frau wollte Stefanie Tönnis eigentlich nach der Ausbildung die Restaurierung von Schriftgut und Grafik studieren. „Doch das Buchbinden hat so einen Spaß gebracht, dass ich dabei blieb. Restaurierung habe ich aber noch bei Fortbildungen gelernt.“ So gab es neben Kiel noch ein paar weitere Stationen in ihrem Berufsleben. Als Gewerbe ist die Buchbinderei erst seit dem späten Mittelalter bekannt. Aber die Kunst des Buchbindens entwickelte sich schon viel früher. Vor allem in Kirchen und Klöstern waren es die Mönche, die die von ihnen geschriebenen Bücher auch banden und mit kunstvollen Bildern ausschmückten. Buchbinder ist heute ein dreijähriger Lehrberuf. Es werden nicht nur Unikate, Kleinstauflagen, Loseblattsammlungen sowie Zeitschriften gebunden, sondern es werden auch historische Bücher restauriert. Hergestellt werden zudem aufwendige Gästebücher, die Cover für Doktorarbeiten oder Fotoalben. Dabei werden unterschiedliche Materialien, wie Leinen, Seide, Papier oder Leder benutzt. Auch die Kunst, individuelle Mappen, Kästen, Ordner, Schuber, Etuis und Kassetten sowie das Passepartouts für Bilder herzustellen, lernt man in dem Beruf. Gegenwärtig gab es 2019 laut Auskunft des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks noch 731 Buchbinder-Handwerksbetriebe in Deutschland. Die Buchbinderei Fritz Castagne aus Kiel ist der letzte Betrieb, der noch in Schleswig-Holstein ausbildet. „Der Untertan“ von Heinrich Mann aus Oasen-Ziegenleder: In der Schweiz lernte sie beispielsweise die Finessen des künstlerischen Handeinbands kennen. Ihr Meisterstück liegt in einer Glasvitrine rechts vom Eingang. Das Buch „Der Untertan“ von Heinrich Mann mit einem Einband aus Oasen-Ziegenleder, dreiseitigem Goldschnitt und einem handgestochenen „Kapitalband“ am Kopf und Fuß des Buches. Auf dem Titel sind Prägungen, die den Inhalt der Geschichte aufgreifen. „Das war schon sehr anspruchsvoll“, gesteht sie und streicht liebevoll über das Gesamtkunstwerk. Eine Bibel von 1753 wird gerade in Kiel aufgearbeitet: Die Bücherliebe bekommen auch die ganz alten Schinken zu spüren. Eine Bibel von 1753 wartet darauf, aufgearbeitet zu werden. Daneben liegt eine Münchhausen Ausgabe von 1803, der man ansieht, dass sie sehr geliebt wurde. Stefanie Tönnis erzählt von reversiblem Klebestoff, von hauchzartem Japanpapier, von Hühnereiweiß und der Alchemie des Buchbindens. Sie spricht von jahrhundertealtem Handwerk, vom Stabilisieren, Konservieren, Glätten, Erhitzen, Prägen und Verstärken. Die Buchbinderei Castagne ist ein wenig so wie ein Krankenhaus für Bücher. Kaputtes wird hier wieder heil. Ob im Zeitalter des Internets die Buchbindereien irgendwann einmal aussterben werden? Stefanie Tönnis lacht. „Nein, zum Glück wissen viele Menschen unsere Arbeit sehr zu schätzen.“ Eine Zeitlang führte ihr Handwerk zwar eher ein Nischendasein und galt als verstaubt. „Aber das ändert sich gerade“, sagt die Chefin. „Wer zum Beispiel einmal ein Billig-Fotoalbum in der Drogerie gekauft hat und nach kurzer Zeit eher Einzelteile in der Hand hielt, weiß, wovon ich rede.“ Buchbinderei Fritz Castagne, Faulstraße 20. Bis zum 11. Januar macht Inhaberin Stefanie Tönnis Betriebsferien. Danach gelten die normalen Öffnungszeiten: Mo-Fr. 8 bis 12.30, 13.30 bis 16.30 Uhr. Selbst wenn der Lockdown verlängert wird, darf der Handwerksbetrieb weiterarbeiten. Telefon 0431/94647 oder per Mail (fritzcastagne@gmx.de) möglich.