Gesundheitsamt Kiel: So wird versucht, das Coronavirus zu verfolgen

Am vergangenen Donnerstag setzt Meno Rodewald sein Headset auf, holt den Sitzplan einer Schulklasse aus einem Aktenordner und versucht, mit einem Telefonat den nächsten Flächenbrand zu verhindern. Es ist der Tag nach dem Corona-Ausbruch im Altenzentrum St. Nicolai, mit 38 Infizierten dem schlimmsten in Kiel seit Beginn der Pandemie. Und jetzt auch noch dieser Fall in einer Schule. „Mit wem warst du denn in der Pause auf dem Schulhof? Ach, nur mit Mehmet und Luisa*? Sonst mit niemandem? Und was habt ihr gemacht? Habt ihr nur den Ball hochgehalten oder auch Fußball gespielt? Also nur Ball hochgehalten – und kommt man sich da nahe, eher nicht, oder? Und aus der Parallelklasse war niemand dabei? Ach, Mehmet ist aus der Parallelklasse, verstehe. Auf dem Sitzplan deiner Klasse steht“, Meno Rodewald beugt sich weit über das Blatt auf seinem Schreibtisch, um die Schrift zu entziffern, „dass du neben Luisa und Lennart* sitzt. Das stimmt, okay. Und fährst du mit dem Bus zur Schule oder gehst du zu Fuß? Hast du die Corona-App installiert? Nicht? Okay. Aber dir geht es gut, ja? Sehr schön.“ Der Junge am anderen Ende ist positiv auf das Coronavirus getestet worden. Für den Schüler bedeutet das Quarantäne, der empfundene Stillstand eines Teenagerlebens, ohne Unterricht und Ball hochhalten mit Freunden. Für Meno Rodewald bedeutet es: jede Menge Arbeit. Der 35-Jährige arbeitet im Gesundheitsamt der Stadt Kiel, Abteilung Kontaktdatennachverfolgung, kurz Kona. Lesen Sie auch: Heimleitung kritisiert Schuldzuweisung nach Corona-Ausbruch Das Gesundheitsamt hat die Mitarbeiterzahl deutlich erhöht: Eine Einheit, die kein Leben auf Intensivstationen rettet, keinen Impfstoff erforscht und keine politischen Entscheidungen trifft, und die doch überlebenswichtig ist in einer Krise, in der es ständig um Zeit geht. Eine Einheit aus stillen Helden, die selten still sein kann, weil das Telefon kaum stillsteht, was wiederum daran liegt, dass jeder Neuinfizierte Kontakt mit anderen hat, manchmal nur mit zwei Personen, manchmal aber auch mit mehr als hundert. Deshalb ist es auch eine Einheit, die fast täglich größer wird. Meno Rodewald hat an der Uni in Kiel Medizin studiert, bevor er sich vor sechs Monaten bei Sabine Herlitzius beworben hat. Die Chefin des Gesundheitsamtes schätzt die Zahl derer, die sich in verschiedener Weise mittlerweile um das Thema Corona kümmern, auf 120 Mitarbeiter. So ganz genau weiß sie das nicht, das Team wächst zu schnell. „Wir stellen noch immer ein“, sagt Herlitzius, „und die Bewerbungen häufen sich.“ Einige Namensschilder an den Bürotüren sind überklebt, die Zettel mit neuen Namen beschriftet. Um die Corona-Einheit an einem Ort zu bündeln, mussten andere, die teilweise Jahre, teilweise schon immer in dem Amtsgebäude an der Fleethörn arbeiteten, in andere Gebäude umziehen. Wer hingegen neu im Kona-Team anfängt, hat keinen festen Arbeitsplatz. „Diese Arbeit erfordert hohe Flexibilität. Der Raum, die Arbeitszeit, sogar die Aufgabe kann sich jederzeit ändern“, sagt Herlitzius. Der tägliche Kampf, auf Augenhöhe mit dem Virus zu bleiben: Wie soll es auch anders zu gewinnen sein, dieses Wettrennen gegen einen Rivalen, der immer einen Schritt schneller ist? „Wir kämpfen, um mit dem Virus auf Augenhöhe zu bleiben, auch an Wochenenden und Feiertagen“, sagt die Leiterin des Gesundheitsamtes. „Das gelingt uns derzeit, es gelang uns aber nicht zu jeder Zeit.“ Einen Tag im Rückstand zu sein, nicht zu wissen, wer sich bei wem angesteckt hat, das sorgt für Unsicherheit: erst im Amt selbst, dann in der Bevölkerung und schließlich in der Politik, die darauf mit strengeren Maßnahmen reagieren muss. In anderen Teilen Schleswig-Holsteins müssen bereits Soldaten der Bundeswehr in den Gesundheitsämtern aushelfen, um dem Feind lokal nicht zu erliegen. „Ich hätte meinen Mitarbeitern über die Weihnachtsfeiertage gerne eine Ausruhzeit gegönnt – doch selbst dann werden wir präsent sein“, sagt Herlitzius. „Wir gehen nur zum Schlafen nach Hause.“ Durchhaltewünsche hängen an der Pinnwand: Im Büro von Meno Rodewald, das er sich mit drei Kollegen teilt, stehen zwei große Pinnwände: Zahllose Zettel hängen daran, zum Beispiel die Nummer einer polnischen Dolmetscherin, der des Ordnungsamtes, wichtige amtliche Hinweise und mittendrin die Postkarte einer ehemaligen Mitarbeiterin, die aus dem Süden die alten Kollegen grüßt und gutes Durchhalten wünscht. Auf einem Tisch stehen drei volle Aktenordner mit Corona-Fällen aus Schulen und Kitas. „Das ist nur ein Bruchteil von dem, was in Arbeit ist“, winkt Falk Herzig, Rodewalds Bürokollege, ab. Der Rest sei selbstverständlich digital. Der standardisierte Fragebogen für Covid-19-Kontaktpersonen, der sich neben den Ordnern stapelt, müsse allerdings trotzdem mehrmals täglich nachgedruckt werden, sagt Herzig, 46 Jahre alt und seit Ende Oktober im Kona-Team. "Eine sinnvolle Arbeit", findet die Biologin: Im Vergleich zu Elinor Tessin ist er schon ein alter Hase. Sie hatte in der Woche zuvor ihren ersten Tag, einen festen Arbeitsplatz hat sie deshalb noch nicht. Heute sitzt sie neben einer Buddha-Statue, Fotos von Kindern, die nicht ihre sind, und einem Spruch, der wie für sie aufgestellt scheint: „Wir sollten mit Logik und Verstand an die Sache herangehen.“ – „Sie sind neu hier, oder?!“ Elinor Tessin hat ihr Biologie-Studium mit einem Master-Abschluss beendet, dies ist ihr erster Vollzeitjob. „Es ist nicht leicht, in Corona-Zeiten eine sinnvolle Arbeit zu finden. Hier kann ich mit dafür sorgen, dass sich die Welt, die im Lockdown ist, bald wieder öffnet.“ Das Schwierigste an ihrer Arbeit sei es, wenn die Menschen am anderen Ende nicht Deutsch sprechen. Dann hilft ein Übersetzer, russisch und arabisch habe sie schon erlebt. „Die Kinder und Jugendlichen sind ziemlich entspannt, die kennen das mit der Quarantäne.“ Wie gut die das kennen, steht schwarz auf weiß auf sechs DIN-A1-Blättern an drei Pinnwänden, die auf dem Flur im ersten Stock des Gesundheitsamtes stehen. Dort sind, in chronologischer Reihenfolge, alle Schulen notiert, an denen es seit Beginn der Pandemie mindestens einen Corona-Fall gegeben hat. Die Handschrift ist klein, die Zettel eng mit Textmarker beschrieben, es sind unzählige Schulen. Auch an diesem Donnerstag wurden zwei ergänzt. Zwei Neuinfektionen von 46 insgesamt an diesem Tag, zwei von 1436 Corona-Fällen in Kiel seit März. Viele weitere werden noch folgen, und Meno Rodewald, Falk Herzig, Elinor Tessin und all die anderen stillen Helden werden versuchen, sie nicht zum Flächenbrand werden zu lassen. *Namen geändert