Hitlers Geheimdienst-Chef: Canaris’ Karriere begann in Kiel

Ausgerechnet Wilhelm Canaris. Der Mann, über den es fast so viele Biografien gibt wie über Hitler und Himmler. Sogar ein Spielfilm wurde über sein bewegtes Leben als Hitlers Chef-Spion und umstrittener NS-Widerstandskämpfer gedreht. Was will man über diesen Mann noch groß Neues schreiben? Eine ganze Menge, findet Heiko Suhr (37). Zehn Jahre lang forschte der Historiker über Wilhelm Canaris und war dazu weltweit unterwegs. Er besuchte Archive in Chile, Amerika, Großbritannien und Russland, entdeckte verschollen geglaubte Zeitdokumente und sprach als erster und einziger mit der Tochter des berühmten Marineoffiziers. Herausgekommen ist nun ein über 500 Seiten starkes Buch, das gerade von der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte veröffentlicht wurde. Im Mittelpunkt stehen die rund dreißig Jahre, die Canaris bei der Marine u.a. in Kiel verbrachte. Hier lernt er das Handwerk, die Spionage und die Liebe kennen. Treffen vorm Kieler Landeshaus – hier war einst die Marineakademie: An diesem grauen Wintertag steht Heiko Suhr das erste Mal da, wo die Marine-Laufbahn von Wilhelm Canaris 1905 begann. Vorm Kieler Landeshaus. Das Gebäude, das 1888 als Kaiserliche Marineakademie gebaut wurde, atmet Geschichte. Dort lernte Canaris einst alles über strategische Kriegsführung, Seeschlachten und Manöver. „Ich war bisher noch nie in Kiel“, gesteht Heiko Suhr und wundert sich selbst ein wenig. Heute ist der Historiker direkt aus Wesel (Nordrhein-Westfalen) gekommen, wo er beim dortigen Stadtarchiv arbeitet. Knapp 500 Kilometer hat er zurückgelegt, um unserer Zeitung ein Interview zu geben. „Kiel war sehr, sehr prägend für Canaris“, sagt er. „Nur wenn man diese Zeit hier kennt, kann man verstehen, warum Canaris als einziger Marineoffizier seiner Generation bewusst für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus eintrat.“ Wilhelm Canaris wurde 1945 im KZ Flossenbürg gehängt: Wo beginnt die Geschichte von Wilhelm Canaris, die am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz ihr gewaltsames und tragisches Ende nehmen sollte? „In Aplerbeck bei Dortmund, wo Canaris aufwuchs“, sagt Heiko Suhr. Canaris sei ein Prototyp für die Zielgruppe der damaligen Marine-Propaganda gewesen. „Er kam aus dem Bildungsbürgertum – war ehrgeizig, bildungsbeflissen, technikinteressiert. Genau solche Leute wurden damals gesucht.“ Schon in der Nachbarstadt Duisburg, die damals einen der größten Binnenhäfen besaß, habe Canaris oft am Hafen gesessen und aufs Wasser geschaut. „Der Wunsch zur Marine zu gehen, bestand schon weit vor dem Abitur.“ Am 1. April 1905 durchquerte Wilhelm Canaris – als einer von 159 Seekadetten – dann erstmals das Tor der Marineschule in Kiel und legt in den folgenden Jahren eine beispiellose Karriere hin. Wilhelm Canaris (1887–1945) gehört zu den bekanntesten Marineoffizieren der deutschen Zeitgeschichte. Im Ersten Weltkrieg wurde er als Agent und U-Boot-Kommandant eingesetzt. In Chile konnte er spektakulär einer Internierung entgehen. In Spanien organisierte er den deutschen Nachrichtendienst gegen Großbritannien. Auch in den Jahren der Weimarer Republik war seine Karriere durch außerordentliche Kommandos geprägt. Er saß an der Schnittstelle von Reichsmarine und Konterrevolution und er trieb geheime deutsche Rüstungsprojekte vor allem in Spanien und Japan voran. Im Zweiten Weltkrieg war er Leiter des militärischen Nachrichtendienstes. Ab 1938 unterstützte Canaris konservative Widerstandskämpfer und beteiligte sich selbst an zahlreichen Umsturzversuchen. Am 9. April 1945 wurde er im KZ Flossenbürg als zentrale Figur des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gehängt. Mehr als 100 Nachfahren von früheren Marinekameraden befragt: Als Heiko Suhr mit seinen Recherchen beginnt, ist er noch Student an der Uni Vechta und hat eigentlich als ehemaliger Wehrdienstverweigerer mit Marinegeschichte nichts am Hut. Doch je mehr er über Wilhelm Canaris forscht, desto mehr ist er fasziniert. Fast wie ein Detektiv heftet er sich an jede noch so kleine Spur, um mehr über den berühmten Marineoffizier zu erfahren. Sogar Canaris‘ Tochter Brigitte lieferte erstmals wichtige Fakten: Er befragt mehr als 100 Nachfahren von früheren Marinekameraden, zahlt immense Flugkosten, um Archive in den entlegensten Winkeln der Welt zu erreichen. „Vier Jahre lang stand ich mit Brigitte Canaris, seiner Tochter, in intensiven Kontakt“, erzählt der Historiker. „Doch sie wollte nie über ihren Vater sprechen.“ Doch irgendwann öffnet auch sie sich ihm und liefert wichtige Fakten für sein Buch. Hilfe von der Stasi-Schnipselmaschine: Als Heiko Suhr eines Tages in Berlin einen Vortrag über seine bisherigen Forschungen hält, zeigt ihm ein älterer Herr tausend kleine Papierschnipsel – zerrissen, verfallen und kaum lesbar. „Dabei handelte es sich um die Liebesbriefe, die Erika Canaris an ihren Mann Wilhelm geschickt hatte, als der in aller Welt unterwegs war“, erzählt Heiko Suhr und fügt lachend hinzu. „Zum Glück kannte ich einen Techniker vom Fraunhofer-Institut. Dort haben sie die Stasi-Schnipselmaschine entwickelt.“ Die Computertechnik puzzelte so alle minikleinen Einzelteile wieder zusammen und spuckte anschließend fast 300 makellose Briefe aus. „Wilhelm Canaris hatte Erika in Kiel kennengelernt“, sagt er. „Aus den Briefen zu schließen, muss es eine sehr innige Beziehung gewesen sein.“ Drei verschollen geglaubte Fotoalben von Wilhelm Canaris tauchten in Florida auf: Ein Glücksfund kommt auch aus dem amerikanischen Kalifornien: zwei private Fotoalben von Wilhelm Canaris. „Im Internet hatte ein Amerikaner meine Vortragsankündigung gelesen und Kontakt aufgenommen“, erzählt Heiko Suhr. Sein Vater war als amerikanischer Soldat in Deutschland stationiert und hatte während der Besetzung bis 1946 in Canaris’ Haus in Berlin gelebt. „Anschließend waren die Alben wohl mit über den großen Teich gewandert.“ Taucher finden Enigma aus Zweiten Weltkrieg auf dem Grund der Ostsee So schätzt Marinehistoriker Jann Witt den Enigma-Fund ein Taucher berichten: Wie es zum sensationellen Enigma-Fund in der Ostsee Enigma soll aufwendig restauriert werden Über Seeschlachten und spektakuläre Fluchten: Viel ließe sich noch erzählen. Über Canaris’ Agenten-Tätigkeit im Ersten Weltkrieg, über gefälschte Pässe und Seeschlachten, über spektakuläre Fluchten aus Feindesgebiet und Verdunkelungsaktionen. Oder über sein Faible für Sprachen, seine Bescheidenheit, seinen Humor oder seine zweite Tochter Eva, die aufgrund einer Hirnhautentzündung behindert war und so ihren Vater auch auf ganz persönlichem Gebiet in Distanz zum NS-Regime brachte. Aber dann würde man vielleicht das Buch von Heiko Suhr, die gekürzte Fassung seiner Doktorarbeit, nicht mehr lesen. Und das wäre schade. Hellauf begeistert von dem Buch ist auf jeden Fall Thomas Steensen, Vorsitzender der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (GSHG). „Canaris war eine vielschichtige Figur“, sagt Steensen. „Dass er seine Wurzeln in Schleswig-Holstein hat und viel von seiner Denkweise in Kiel vorgeprägt wurde, war bisher nicht bekannt.“ Er sei sehr, sehr froh, dass es gelungen sei, das Buch nun in der traditionsreichen Reihe der GSHG zu veröffentlichen. Buch: Heiko Suhr, Wilhelm Canaris Lehrjahre eines Geheimdienstchefs (1905–1934), Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 130, herausgegeben von der GSHG, Wachholtz-Verlag, 49,90 Euro, ISBN 978-3-529-02224-1. Und wer weiß. Vielleicht werden wir in einigen Jahren wieder über Heiko Suhr berichten. Dann nämlich, wenn er ein zweites Buch über die Folgejahre fertig hat.

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