Die Lage hat sich drastisch zugespitzt

Den Kieler Einzelhändlern geht im weiter anhaltenden Lockdown so langsam das Verständnis aus. In einer langen Mail hat sich nun Anneke Heinrich (33) an unsere Zeitung gewandt, weil sie nicht mehr weiter weiß. „Die Lage hat sich drastisch zugespitzt“, sagt die Inhaberin von „Schuh Heinrich“. Auch Mareike Petersen vom Einzelhandelsverband Nord spricht derzeit von einer „extrem existenzbedrohenden Lage“. Eine aktuelle bundesweite Umfrage ihres Verbands habe ergeben, dass „bis zu 60 Prozent der Betroffenen dieses Jahr nicht überstehen werden, wenn sich nicht schnell etwas ändert“. Ein Besuch bei Kieler Geschäftsinhabern. „Wir sind nicht die Meckerer“, stellt Anneke Heinrich gleich zu Anfang klar, während sie für den Fotografen die gläserne Eingangstür von „Schuh Heinrich“ am Alten Markt aufschließt. „Die Infektionszahlen müssen weiter sinken, damit wir so schnell wie möglich wieder ein normales Leben führen können.“ Falsch sitzende Kinderschuhe können enormen Schaden anrichten: Doch bei den aktuellen Beschlüssen komme sie nicht mehr mit. Der neue Inzidenzwert von 35 beispielsweise. Aber auch, dass Kollegen in anderen Bundesländern Kinderschuhe bis Größe 30 verkaufen dürfen. „Schlecht sitzendes Schuhwerk kann bei Kindern einen enormen Schaden anrichten“, sagt die Geschäftsfrau. „Uns ist nicht erlaubt, unter strengen Hygienemaßnahmen mit Terminvergabe Schuhe zu verkaufen. Aber im Supermarkt ist das dicht gedrängt möglich.“ Bei solch einer Ungleichbehandlung kann sie nur den Kopf schütteln. Passend zum Thema ruft eine Mutter an, die für ihre Tochter im Kindergartenalter neue Schuhe braucht. Anneke Heinrich gibt ihre Handynummer weiter, bittet um ein Foto vom aktuellen Schuh der Tochter, sowie um ein kurzes Laufvideo. Per Foto bekommt die Kundin dann eine kleine Auswahl an Schuhen präsentiert. „Die Anprobe werde ich dann über Video begleiten und beratend zur Seite stehen“, erklärt Anneke Heinrich. Enorm viel Aufwand, um ein einziges Paar Kinderschuhe zu verkaufen. Mit Click & Collect wird nur ein Bruchteil der Kunden erreicht: Schon beim ersten Lockdown hat Schuh Heinrich für Erwachsene auch auf Click & Collect und einen Lieferdienst gesetzt. Es sind Bestellungen über QR-Codes im Schaufenster möglich, Zoom-Schuh-Partys sind geplant. „Trotz alledem erreichen wir nur einen Bruchteil unserer Kunden“, so Anneke Heinrich. Die Stimmung in der Branche sei explosiv. „Unser aller Verständnis für die Maßnahmen ist aufgebraucht.“ Dass das Saarland jetzt am Mittwoch ein Werbeverbot für Supermarkt-Produkte erlassen hat, die nicht zum täglichen Bedarf gehören, sieht sie zumindest schon mal als Schritt in die richtige Richtung. Auf Click & Collect und einen Lieferdienst setzt auch Benjamin Geffert (40). In der Holtenauer Straße belädt er gerade sein weißes E-Lastenrad mit Ware, die zum Kunden gebracht werden soll. „Bei diesem kalten Wetter trifft uns der Lockdown besonders hart“, sagt der Geschäftsinhaber von „Sieben Meilen“, einem Outdoor-Schuhgeschäft. „Die Leute haben nasse und kalte Füße und könnten jetzt unsere Schuhe gut gebrauchen.“ Kreative und individuelle Ideen gewünscht: Statt pauschaler Maßnahmen würde er sich kreative und individuelle Lösungen wünschen. „Eine stark reduzierte Kundenanzahl, Schnelltests oder selbst Einzeltermine wären denkbare Szenarien“, sagt er. „Wir würden uns auf alles einlassen.“ Kreativ ist Kerstin Kremer (55) geworden. Die Mitinhaberin vom Kieler „Reiseshop“ am Walkerdamm hat gerade eine bunte Auswahl für einen Kunden zusammengestellt, der im April eine Pilgerreise machen möchte. Mit verschiedenen Rucksäcken, Jacken und Schuhen macht sie gleich einen Hausbesuch. Auch auf Click & Collect setzt sie. „Das deckt aber natürlich alles nur einen Bruchteil unserer sonstigen Umsätze ab“, sagt sie. Seit Monaten lebe sie bereits von ihrer Altersvorsorge. Auch sie wünscht sich viel individuellere Regeln und verweist auf eine aktuelle Studie der Technischen Uni Berlin. Darin wird eine mögliche Ansteckungsgefahr in Geschäften als äußerst gering bezeichnet. Modebranche blickt in düstere Zukunft: Frustration auch in der Mode-Branche. Silke Thomann (57) von „Mode und mehr“ an der Hummelwiese bezeichnet die derzeitige Lage als „absolut gruselig“. „Ich lebe seit Monaten von meinem Mann“, sagt sie. Auch Simone Delz (61) von „JoJo Mode“ in der Holtenauer Straße fällt es zunehmend schwerer, noch optimistisch in die Zukunft zu schauen. „Es fehlt einfach eine Perspektive, wann wir wieder öffnen dürfen“, sagt sie. „Die Frühjahrsware muss bezahlt werden, aber im Geschäft hängt das Geld noch in Form von Winterware, und wir müssen jetzt die Ware für den nächsten Herbst ordern.“ Mit vielen Aktionen in den sozialen Medien und auf der Homepage versucht sie zumindest bei ihren Kundinnen, für gute Laune zu sorgen. Unter anderem mit „Glücksgriff-Tüten“. Die Idee hat auch „Hold“ in der Holstenstraße. An drei Tagen die Woche reicht Filialleiterin Sabine Rex (58) vorbestellte Wundertüten über die abgesperrte Eingangstür. „Wir merken schon sehr, dass wir unseren Kundinnen fehlen“, sagt sie. "Die Corona-Last auf viele Schultern verteilen": Anneke Heinrich von „Schuh-Heinrich“ hofft nun, dass es in Kürze zu einem Umdenken kommen wird. „Wir tragen gerne unseren Teil dazu bei, die Pandemie zu bekämpfen“, sagt sie. „Aber die Last muss auf viele Schultern verteilt werden, damit Einzelne nicht zusammenbrechen.“

Kiel: Einzelhändler in Sorge - Die Lage hat sich drastisch zugespitzt