Wenn Eltern süchtig sind: Die Probleme der „vergessenen Kinder“

Sie werden die „vergessenen Kinder“ genannt. Kinder, die mit Eltern aufwachsen, die der Sucht verfallen sind. Meist bekommt die Gesellschaft wenig von ihnen mit. Doch hinter verschlossenen Türen erleben die Betroffenen oft eine Kindheit ohne Frieden, voller Chaos und Stress. Geborgenheit, Liebe und Fürsorge sind Mangelware, weil die Aufmerksamkeit der Eltern viele Stunden am Tag nur um die Sucht kreist. Ein drogenabhängiger Vater aus Kiel erzählt jetzt, wie es mit Hilfe auch anders geht. Ein mutiger Schritt. Denn die meisten suchtbelasteten Eltern versuchen alles, um ihre Sucht und die daraus resultierenden Familienprobleme im Verborgenen zu halten. Das Treffen mit dem 42-jährigen Vater findet in der Boninstraße statt. Hier ist der Sitz des Diako Suchthilfezentrums. Eines der Angebote dort gibt es seit elf Jahren. Es heißt „HiKiDra“ und steht für „Hilfen für Kinder Drogenabhängiger“. Ein Drogenabhängiger erzählt: Seit rund vier Jahren besuchen seine beiden Söhne, die inzwischen neun und sieben sind, das Angebot regelmäßig. „Ich bin unendlich dankbar, dass es das gibt“, sagt er. Eigentlich könnte hier auch sein Name abgedruckt werden, fügt er hinzu. Aber die Berater haben ihm davon abgeraten. Also nennen wir ihn einfach Erik Petterson. „Bei einem unserer ersten Termine hier war ich fast zu Tränen gerührt“, erzählt er. „Es wurde ein Weihnachtsfest für die Kinder organisiert. Das war fast wie Familie. An jeden wurde gedacht.“ „Unsere Gesellschaft ist nicht für schwierige Kinder gemacht“: Seine beiden Jungs werden bei „HiKiDra“ gesehen, mit Liebe und Aufmerksamkeit bedacht, erzählt Erik Petterson glücklich. Daran hat er sich eigentlich bis heute nicht recht gewöhnt. „Unsere Gesellschaft ist ansonsten nicht für schwierige Kinder gemacht“, sagt er. Er erzählt von tuschelnden Eltern, weil sein Jüngster mal wieder andere Kinder gebissen hat, von Anfeindungen und Unmenschlichkeit. In solchen Situationen sehnt er sich nach Verständnis, nach warmen Worten. Der jüngste Sohn ist Autist, der andere leidet unter schwerer Depression: So, wie er das hier in der Boninstraße bekommt. „Mein Jüngster ist Autist“, erzählt er. „Sobald es Veränderungen gibt, rastet er aus. Das ist eine große Belastung.“ Aber auch sein Neunjähriger hat es nicht leicht. „Ärzte haben jetzt eine schwere Depression bei ihm diagnostiziert“, sagt er. „Unsere Gesamtsituation ist äußerst schwierig, eben auch für ihn.“ Corona macht derzeit alles viel schlimmer: Mit seiner 39-jährigen Frau und den beiden gemeinsamen Kindern lebt Erik Petterson in einer 60-Quadratmeter-Wohnung mitten in Kiel. Die Jungs teilen sich ein Zimmer. „Zurückziehen kann sich niemand richtig“, sagt er. Corona macht alles zudem viel, viel schlimmer. „Ich habe eine psychische Erkrankung und eine Immunschwäche. Einkaufen war ich schon lange nicht mehr. Da gehe ich kein Risiko ein.“ Seit fast 20 Jahren ist der zweifache Vater drogenabhängig. „Ich hatte eine Borderline-Störung“, sagt er. „Die Drogen halfen anfangs, dass ich besser am Leben teilnehmen kann. Auf lange Sicht war das natürlich eine schlechte Entscheidung.“ Legale Ersatzdrogen als Lösung: Seit 2004 ist er in der Substitution. Das heißt, er nimmt legale Ersatzdrogen. Die Medikamente bekommt er täglich in der Diako-Fachambulanz. Die Kosten trägt die Krankenkasse. Da er als schwerbehindert gilt, ist er mit 42 Jahren bereits Frührentner. Seine Frau geht arbeiten, er hat die Rolle des Hausmannes übernommen. „Eine gute Lösung“, sagt er. „Mir liegt es eher, zu Hause die Stellung zu halten.“ Seine beiden Jungs liebt er heiß und innig. „Die sollen eine gute Ausbildung und später ein bessere Leben haben als ich“, sagt er. Dass das vielleicht eines Tages funktioniert, dabei hilft auch das Team in der Boninstraße. „Das Größte ist für meinen Ältesten, wenn er hier in der Holzwerkstatt arbeiten kann“, erzählt der Vater. HiKiDra bietet eine engmaschige Betreuung: Gerne hätte er ihn auf der Waldorfschule gesehen, wo diese Fähigkeit gefördert werden könnte. Doch für solch eine Privatschule fehlt der Familie das Geld. Er erzählt, wie toll das HiKiDra-Team auf die Kinder eingeht, von der engmaschigen Betreuung, von der Geduld. „Jedes Kind kriegt hier die Zeit, die es braucht“, sagt er und berichtet weiter vom Schwimmunterricht, von Spielnachmittagen, vom Bauernhof-Urlaub und einem bunten Ferienprogramm. Seinen beiden Jungs tue es gut, auf andere Kinder treffen, die ebenfalls aus suchtbelasteten Familien stammen. „Da interessiert es nicht, ob die Eltern Probleme mit Drogen haben, ob man verhaltensauffällig ist oder nicht. Jeder wird so genommen, wie er ist“, sagt er. „Von solchen Einrichtungen müsste es im Grunde wesentlich mehr geben.“ Jetzt während der Corona-Pandemie gibt es nur ein eingeschränktes Angebot. Erik Petterson und seine Jungs nutzen trotzdem jede mögliche Chance, um vorbeizukommen. „Hier kann ich über meine Sorgen und Befindlichkeiten reden“, sagt er. „Hier hat man Verständnis für uns.“ Sein Betreuer Jan Rademann (46) muss lachen, als er das hört. „Ja“, sagt er grinsend. „Manchmal ist er wie ein Tanker, der mal auf hoher See was verklappen muss. Da müssen die Sorgen raus.“ Aber damit kann der gelernte Erzieher und Sozialarbeiter umgehen. Genau hinzusehen und da zu sein, ist schließlich sein täglicher Job. Vom schwierigen Leben mit den eigenen süchtigen Eltern: Im Suchthilfezentrum Kiel mit der Diako-Fachambulanz werden Menschen mit Suchtproblem beraten, behandelt und betreut. Für die Kinder dieser Familien gibt es die „Hilfen für Kinder Drogenabhängiger“ (HiKiDra). Ziel ist es, das Risiko zu minimieren, dass die Kinder aufgrund der suchtbelasteten Familiensituation seelische Störungen davontragen und später eine eigene Suchtproblematik entwickeln. „Unsere Klienten haben meist große Päckchen zu tragen“: „Unsere Klienten haben meist große Päckchen zu tragen“, sagt Birgit Prokop (55). Die Heilpädagogin gehört zusammen mit Sozialarbeiter Jan Rademann (46) zum Team von „HiKiDra“. Gerade jetzt während der Corona-Pandemie sei die Verunsicherung bei den Klienten oft groß. „Viele haben Angst und leben noch zurückgezogener als ohnehin schon“, so Prokop. „Die Kinder sind zu Hause, es fehlt oft an Geld. On top kommt dann oft noch eine psychische Erkrankung und Ballast, den die Eltern noch aus Kindertagen mit sich herumschleppen.“ Rund 40 Familien werden bei „HiKiDra“ derzeit intensiver betreut. Unterstützt werden Prokop und Rademann dabei von drei ehrenamtlichen Helfern sowie einem FSJler. Angeboten werden Beratungen, individuelle Hilfen, pädagogische Fördergruppen, Hausbesuche, Kriseninterventionen, Ferienprogramme und vieles mehr. Um das Angebot so niedrigschwellig wie möglich zu halten, können Betroffene auch ohne Termin einfach in der Boninstraße 27a vorbeikommen. 6,6 Millionen Kinder sind deutschlandweit betroffen: Laut Bundesregierung gibt es in Deutschland rund 6,6 Millionen Kinder, die mit einem Elternteil mit riskantem Alkoholkonsum zusammenleben. Rund 60.000 Kinder haben nach Schätzungen einen drogenabhängigen Elternteil. Die Dunkelziffer wird jedoch um ein Vielfaches höher geschätzt. In Kiel sind es rund 1350 substituierte Menschen. Ein Drittel davon sind Frauen. Haben die Betroffenen Kinder, sind diese oft sozial und emotional auffällig und haben erhebliche Entwicklungsverzögerungen. Lediglich ein Drittel der Kinder suchtkranker Eltern gehen trotz der widrigen Verhältnisse in ihrer Familie mehr oder weniger unbeschadet aus dieser belastenden Situation heraus. Vom 14. bis 20. Februar läuft eine Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien. Ziel ist es, diesen vergessenen Kindern eine Stimme zu geben. Die Schirmherrschaft hat die Schauspielerin Katrin Sass übernommen. Mehr: www.Suchthilfezentrum-kiel.de, www.Coa-Aktionswoche.de

Kiel: Wenn Eltern süchtig sind - Die Probleme der „vergessenen Kinder“