Kieler Paar- und Sexualtherapeutin schreibt Buch über Unlust auf Sex

Das vereinbarte Treffen mit Anica Plaßmann wird kurzfristig aufs Telefon verschoben. Ein familiärer Notfall bindet sie an ihre Wohnung in der Kieler Innenstadt. Aber auch so merkt man sofort, dass die Paartherapeutin ein absolutes Energiebündel ist, die mit ihrem gerade erschienenen Buch einen Nerv der Zeit getroffen hat. Etliche Medienanfragen muss sie derzeit beantworten. „Nächste Woche habe ich sogar mein erstes Live-Interview im Radio“, erzählt sie lachend. Dabei habe sie lange dafür gekämpft, dass das Thema „Sex-Abstinenz“ Beachtung findet. Die Scham bei betroffenen Paaren ist groß: „Schon vor zehn Jahren habe ich bei den Gesprächen in meiner Praxis gemerkt: Da stimmt was nicht“, erzählt sie. Immer wieder sitzen ihr Paare gegenüber, die voller Scham irgendwann erzählen, dass ihnen die körperliche Liebe abhandengekommen ist. „Fast ohne Ausnahme wird dann der Abstinente als Problem präsentiert und oft bloßgestellt.“ Wenn die Verantwortung aber so rigoros zugewiesen wird, falle es schwer, eine Lösung zu finden. Und darüber hinaus: „Lustlosigkeit ist normal.“ Doch in unserer Gesellschaft herrsche ein stillschweigendes Einvernehmen, dass Sex ein grundlegender Bestandteil von Partnerschaft ist. Sex gilt als Spaßaktivität und Heilsversprechen. „Übersieht dabei aber all jene, die nicht befriedigt in die Kissen sinken, wenn ‚es‘ erledigt ist.“ Sex gehörte lange zu den ehelichen Pflichten: Weil ihr das Thema so wichtig ist, schreibt sie damals zig Magazine an. Keine Reaktion. Jahre später wendet sie sich an die Wochenzeitung „Zeit“ und bittet um einen Bericht. Im Sommer 2019 erscheint tatsächlich ihr eigener Beitrag auf einer ganzen Seite. Mit einem Foto von einem rosa Dildo inmitten von Abwaschbergen. „Das war der Hammer“, sagt sie lachend. Daraufhin erreichen sie Zuschriften von erleichterten Menschen, die „ihr“ Thema endlich in den Medien wiederfinden. Aber es gibt auch wütende Post. Oft klingt dabei das „Anrecht auf Sex“ durch. „Man muss sich mal vorstellen“, sagt die Paartherapeutin, „im Jahr 1966 war der eheliche Beischlaf noch als Pflicht gesetzlich vorgeschrieben; mit Blick auf widerspenstige Frauen. Die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar.“ Wovor die Menschen beim Sex Angst haben: Wer jetzt nur an sexgetriebene Männer denkt, irrt. „In meiner Praxis schildern beide Geschlechter ihre Sexlosigkeit“, sagt Anica Plaßmann. Sie erzählt von den vielschichtigen Gründen. Da gibt es das Nein zum Sex, weil man sich unansehnlich fühlt, „nicht sauber genug“, gestresst und erschöpft ist oder weil man sich beim immer gleichen Sex langweilt oder weil man beim Akt Schmerzen hat. Andere möchten nicht mit unerigiertem Penis „erektionsgestört“ gesehen werden oder mit unkontrolliertem Gesichtsausdruck beim Höhepunkt. Der Nächste hat Angst, dabei zu pupsen. Wieder andere sagen Nein, weil sie mit bestimmten Stellungen, Utensilien oder Wünschen des Partners oder der Partnerin nicht klarkommen. Manche mögen nicht in Kontakt kommen mit all den Sekreten und Gerüchen beim Geschlechtsverkehr. Augen zu und durch: Nichts ist schlimmer als "Gnadensex": „Viele lassen sich dann trotzdem auf den Akt ein“, sagt die Therapeutin. Sie sagen sich, dass es ja irgendwie dazugehört, oder beruhigen sich damit, dass es ja gleich vorüber ist. „Das ist dann Gnadensex.“ Ein „Augen zu und durch“, um die Gefühle des anderen nicht zu verletzen oder um Streit vorzubeugen. „Es müsste aber genau umgekehrt sein. Priorität muss der Schutz der Abstinenten haben. Für Sex braucht es halt von allen Beteiligten ein Ja. Sonst geht es eben nicht.“ Mit Befremden blickt sie auf den Leitfaden für Therapeuten. In dem „Diagnostic Manual ICD-10“ steht, dass eine Libidostörung vorliegt, wenn es sechs Monate oder länger keinen Sex gab. „Ich sehe das anders“, sagt Anica Plaßmann. „Lustlosigkeit ist normal und gehört in das Spektrum unterschiedlichster Möglichkeiten, mit unserem sexuellen Potenzial zu leben.“ Sex-Abstinenz sei kein Beleg für eine Störung, der Gang zum Therapeuten deswegen nicht zwingend erforderlich. Es muss nicht immer auf Geschlechtsverkehr hinauslaufen: Beim Schreiben ihres Buches habe sie auch gelernt, offen vor der bundesweiten Leserschaft über sich selbst zu sprechen. „Ich kenne beide Gefühlslandschaften von innen wie von außen“, sagt sie. „Willige und ein unwilliger Partner waren Teil meines Lebens. Ich kenne sexuell abstinente Phasen – die freiwilligen und die unfreiwilligen.“ Derzeit schreibt sie an einem neuen Buch. „Darin geht es dann noch mehr um Lösungs-Möglichkeiten“, sagt sie. „Es muss ja nicht immer auf Geschlechtsverkehr hinauslaufen; der Mann muss nicht immer zum Schuss kommen. Es gibt noch ganz, ganz viel anderes, das auch sehr schön ist.“ Sie möchte die Menschen ermutigen, ins Probieren zu kommen. Oder – wenn das passender ist – ins Bleibenlassen. Und vor allem: Endlich darüber zu reden. Denn: „Es ist völlig okay, keine Lust zu haben.“ Frigide oder seltsam sei man deswegen noch lange nicht. Anica Plaßmann, „Sexfrei – Weil es okay ist, keine Lust zu haben“, Knaur-Verlag, 16,99 Euro, ISBN 978-3-426-21489-3. Erscheinungstermin: 1. April.