Mehr Bedürftige, weniger Spenden: Kieler Tafel verhängt Aufnahmestopp

Die Kieler Tafel öffnet zwar erst um zehn, aber schon eine halbe Stunde vorher reicht die Schlange vor der Sozialkirche 70 Meter weit. Frauen und Männer warten mit leeren Tüten und leeren Rucksäcken, die Älteren haben Einkaufstrolleys dabei, viele Jüngere tragen Kopftuch oder sprechen Ukrainisch. Sie alle stehen an für ein kostenloses Lebensmittelpaket. Und sie alle wissen: Wer nicht früh da ist, geht vielleicht leer aus. Denn die Tafel hat nicht nur einen Aufnahmestopp verhängt, kann also keine neuen Kunden wöchentlich mit Lebensmitteln versorgen. Sie schafft es nicht einmal mehr, die bestehenden Kunden einzudecken. Die Kieler Tafel ist am Limit. „Mir ist es schon passiert, dass ich zwei Stunden angestanden hatte – und dann genau vor mir Schluss war“, berichtet die 59-jährige Carola. Verantwortlich dafür sei ein „erheblicher Kundenanstieg“, den der Leiter der Kieler Tafel, Frank Hildebrandt, seit November beobachtet. „Die Menschen kommen wegen der gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise mit ihrem Geld nicht mehr aus.“ Seit Kriegsbeginn suchen zusätzlich ukrainische Flüchtlinge die Tafel auf, während zeitgleich weniger Ware an die Einrichtung gespendet werde. „Es gehen tonnenweise Lebensmittel für die Ukraine an die polnische Grenze, und bei uns kommt weniger an“, erklärt Hildebrandt. An ihre Ausgabestelle in Gaarden hat die Tafel heute 136 Lebensmittel-Kisten geliefert. Eine pro Haushalt. Ehrenamtliche Helfer hatten sie zuvor von fünf Uhr morgens an im Verteilzentrum im Schwedendamm gepackt. Vor Corona bot die Tafel ihre Ware wie auf einem Marktstand an, und jeder konnte etwas wählen. Kundin Karin (68) fand das System besser als die hygienekonformen Kisten, in denen auch Sachen sind, die sie „nicht so gerne mag“. Aber sie wolle nicht meckern. „Ich bin froh, dass es die Tafel gibt.“ Lesen Sie auch Aufnahmenstopp bei der Tafel Bad Bramstedt: Wegen der Flüchtlinge am Limit. Tafeln in Segeberg durch Ukraine-Krieg am Limit: Mehr Kunden und weniger Lebensmittel. Denn mit der kleinen Rente komme sie nicht weit. „Mein Mann kriegt nicht mehr als ein Hartz-IV-Empfänger, obwohl er immer gearbeitet hat.“ Wie vielen anderen in der Schlange sieht man der 68-Jährigen die Bedürftigkeit nicht an. Sie hat sich zurechtgemacht, mit rosa lackierten Nägeln und passendem Lippenstift. Das täuscht darüber hinweg, wie hart sie kalkulieren muss: „Nach Abzug der Festkosten bleiben uns monatlich zum Leben nur 350 Euro. Zu wenig“ Clemens Ohrenschall (70), der früher in der Personalabteilung der Kieler Universität gearbeitet hat, ist seit zehn Jahren ehrenamtlich für die Kieler Tafel im Einsatz. „Das Leid nimmt zu“, resümiert er. „Ich ärgere mich sehr, dass die Stadt die ukrainischen Flüchtlinge zur Tafel schickt, obwohl sie Geld für die Flüchtlinge vom Bund erhält. Dadurch werden die heimischen Bedürftigen verdrängt.“ Die Deutschen unter den Tafelkunden seien vor allem im Rentenalter. Ohrenschall sitzt hinter einer Spuckschutzwand, und kontrolliert, ob die Menschen berechtigt sind, sich eine Kiste abzuholen. Und er kassiert von jedem einen Euro Schutzgebühr. „Doch es gibt immer mehr Menschen, die haben nicht mal mehr diesen einen Euro.“ Bis zu viermal dürften die mittellosen Kunden anschreiben lassen. Kieler Tafel: In der Kiste sind Gemüse, Wurst, Eier, Milchprodukte und Backwaren: Christian (36), der eine Mütze tief in sein schmales Gesicht gezogen hat, kann zwar den Euro zahlen, ist aber ohne Tafel-Ausweis gekommen. Ohrenschall findet ihn in seiner Kartei, und so schnappt sich der 36-Jährige seine grüne Klappkiste und stellt sie draußen auf einen der Holztische, auf denen die Leute die Kisten in ihre mitgebrachten Taschen umpacken müssen. Er habe als Veranstaltungstechniker gearbeitet, erzählt Christian, „doch seit Corona bin ich arbeitslos“. Neben ihm hat sein Kumpel Maik, ein 32-jähriger Mechaniker mit Dreadlocks, die Waren aus seiner grünen Kiste bereits in einen großen Rucksack gestopft: Tomaten, Eier, Joghurt, Kartoffeln, Suppengrün, Pilze, Spargel, Brokkoli, abgepackte Wurst, Brot, Milch, Joghurt, Kuchen und Kartoffelsuppe im Plastikschlauch. Ohne die Tafel wäre der Kühlschrank am Ende des Monats leer: Er meint: „Wenn ich die Sachen von der Tafel nicht hätte, wäre mein Kühlschrank am Ende des Monats leer, ich müsste entweder Essen klauen oder etwas bei Freunden schnorren.“ Zuletzt hätte er als Schweißer gearbeitet, aber seit einem Bandscheibenvorfall sei er nicht mehr im Einsatz. So geht es hier vielen Menschen in der Schlange. Sie klagen über Krankheiten, die sie zu früh aus dem Berufsleben geworfen hätten. Auch Brigitte (61) sagt, sie habe gearbeitet, drei Kinder und zwei Enkel, aber nun auch Arthrose und Diabetes. Daher müsse sie jetzt mit 223 Euro monatlich auskommen. „Zum Glück gibt es die Tafel. Mit den Lebensmitteln komme ich eine ganze Woche längs.“ Das kann die 56-jährige Elke nicht behaupten. Sie hat sich schon mehrfach vergeblich bei der Tafel angestellt, weil die Kisten vergriffen waren, bevor sie an die Reihe kam. Sie zeigt auf eine größere Gruppe von Menschen, die sich auf Arabisch unterhalten: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber die müssen sich an die Regeln halten und sich in der Schlange nicht einfach vordrängeln. Das ist nicht fair.“ Ihre Tochter Sabrina (27) pflichtet ihr nickend bei. „Wir sind ja nicht zum Spaß hier, sondern weil uns nichts anderes übrig bleibt“, sagt Elke. „Wie soll man das alles noch bezahlen?“, fragt Sabrina. „Es reicht hinten und vorne nicht. Daher verstehe ich, wenn mehr Leute zur Tafel kommen. Aber dann muss es doch hier auch mehr Lebensmittel geben“, meint Elke und liefert ihre Lösung gleich mit: „Die Supermärkte sollten nicht so viel wegschmeißen, sondern an die Tafel geben. Dann wäre für alle genug da. Und die eigene Bevölkerung müsste nicht gucken, wo sie bleibt.“ Heute haben Elke und Sabrina Glück. Die Kisten reichen für alle. Zwischenzeitlich musste Ehrenamtler Ohrenschall trotz Aufnahmestopp allerdings noch einige Kisten nachordern, damit alle Wartenden bedient werden konnten. Eine halbe Stunde vor dem offiziellen Ende um zwölf ist dann die letzte Kiste weg. Frührentner Ralf (61) hat sie erwischt. Wie alle anderen kommt er nicht gern zur Tafel: „Das lange Anstehen stresst mich, ich bin ja gesundheitlich angeschlagen.“ Aber er sei froh, dass er sich schon vor langer Zeit bei der Tafel registriert habe: „Das Gute ist: Ich bin drin im Klub.“ Von Von Karen Schwenke