Neues Kiel-Buch von Rolf Fischer: Wandel zur demokratischen, modernen Stadt

„In keiner anderen Dekade erlebte Kiel eine so dynamische Entwicklung zur modernen Stadt wie in den 1970er-Jahren“, sagt Fischer. „Mehr Wandel war selten.“ Bündig fasst der Autor seinen doppelten Ansatz zusammen: „Die Bürgerinnen und Bürger veränderten ihr Denken und die Stadt ihr Gesicht.“ Kiel habe sich in jeder Zeit „in bisher nicht dagewesener Art und Weise“ modernisiert. Der oft gehörte Satz, der Fischer zu seiner Sonderveröffentlichung inspiriert hat, lautet: „Unglaublich, was damals alles entstanden ist.“ Fischer: „Die Kieler können stolz auf diese Dekade sein.“ Günther Bantzer als treibende Kraft: Der Vorsitzende der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte verknüpft seine Analyse der 1970er-Jahre mit der Biografie des damaligen Oberbürgermeisters Günther Bantzer (1921-2019), der von 1965 bis 1980 die Geschicke der Stadt leitete – so lange wie niemand vor und nach ihm. Fischer erkennt in Bantzer die „treibende Kraft“ der äußerlichen und innerlichen Stadtentwicklung jener Jahre. Der Autor nennt den legendären Oberbürgermeister den „Protagonisten des modernen Kiel“. Fischer: „Das Neue, das Moderne kam mit Bantzer.“ Die Demokratisierung der Stadtgesellschaft macht Fischer daran fest: „Die Generation der 1968er drängte auch in Kiel nach vorn. Sie stand für ein neues liberales Lebensverständnis, getragen von dem Wunsch, die engeren Begrenzungen der Vorgängergeneration zu entkommen.“ Erst danach, glaubt Fischer, habe die noch junge Demokratie nicht mehr in Frage gestanden. Den Oberbürgermeister Bantzer schildert der Politikwissenschaftler in diesem Zusammenhang als eine Art Willy Brandt von der Förde, der die Sehnsüchte der jungen Generation aufnahm und absorbierte. Dafür steht Bantzers Satz bei einer Studentendemonstration gegen Fahrpreiserhöhungen der damaligen KVAG 1968: „Wir sind bereit zu sprechen.“ In der Sache blieb Bantzer hart. Der Autor von „Kiel & die 70er“ ist der Kieler Politikwissenschaftler Rolf Fischer (Foto). Der 66-Jährige ist Vorsitzender der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte und gehört der Geschichtswerkstatt der schleswig-holsteinischen SPD an. Fischer ist Autor zahlreicher Beiträge und Bücher zur Kieler Stadtgeschichte und zur Landesgeschichte Schleswig-Holsteins. Er publizierte auch die Biografien des früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Hermann Lüdemann (SPD) und des Kieler Malers Richard Grune. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die deutsche Revolution 1918 mit dem Kieler Matrosenaufstand. Dazu hat er gerade die Aufsatzsammlung „Sehnsucht nach Demokratie“ herausgegeben. Darüber hinaus hat er szenische Lesungen und Bühnentexte zu historischen Themen verfasst. Von 2000 bis 2012 gehörte der Sozialdemokrat als direkt gewählter Abgeordneter im Wahlkreis Kiel-Nord dem schleswig-holsteinischen Landtag an. Von 2012 bis 2017 war Fischer Staatssekretär für Wissenschaft in der Landesregierung unter Führung von Torsten Albig (SPD). Die Entdeckung des öffentlichen Raums: Die gesellschaftliche Politisierung jener Zeit belegt Fischer mit der Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen in Kiel. Niemals vorher und nachher war sie so hoch wie in den 70er-Jahren. Wirtschaftlich ging der politische Umbruch in Kiel mit dem beginnenden Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsmetropole einher. Städtebaulich manifestierte die Modernisierung sich laut Fischer in der „Entdeckung des öffentlichen Raumes“. Auch sie sei Bantzer zu verdanken: „Für ihn verlor die Vorstellung von der ausschließlich ökonomisch funktionierenden Stadt langsam an Bedeutung.“ Soziale und kulturelle Bedürfnisse seien stärker in den Fokus gerückt. Fischer: „Eine neue Moral der Stadtgestaltung entwickelte sich, der öffentliche Raum erhielt neue Aufmerksamkeit.“ Der Holstenplatz und der Rathausplatz, bis dahin als Parkplätze genutzt, wurden von Autos befreit und den Menschen gewidmet. Der Europaplatz entstand, der Alte Markt in seiner heutigen Form, aber auch der Hochhauswohnungsbau in Mettenhof. Er galt seinerzeit als der letzte Schrei der Stadtentwicklung – und schon bald als weißer Riesenfehler. Bantzer nutzte von 1970 an die Eingemeindung von Russee, Meimersdorf, Moorsee, Wellsee und Rönne und entwickelte dort menschenfreundlichere Siedlungsgebiete. Olympiahafen mehr als ein Zweckbau: Auch ein Kind der 70er: der Olympiahafen in Schilksee. Für Fischer mehr als ein Zweckbau für die Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele, nämlich „ein Symptom des Willens zur Modernisierung und zur gesellschaftlichen Entwicklung“. Bantzer habe bei der Bewerbung um die Olympischen Spiele nicht nur die Fördermöglichkeiten im Auge gehabt, sondern immer auch die gesellschaftliche Modernisierung. Bereichert wird die Betrachtung des Stadthistorikers auf 200 Seiten durch zwei Gastbeiträge. Der Historiker Timo Erlenbusch beleuchtet die „kommunale Außenpolitik“: Mit dem geheimen Segen des Auswärtigen Amtes knüpfte Bantzer zarte Bande in den damaligen Ostblock. Sie mündeten erst nach seiner Amtszeit in bis heute bestehende Städtepartnerschaften mit Gdynia (Gdingen), Tallinn, Stralsund, Kaliningrad und Sowjetsk (Tilsit). Die ehemalige KN-Korrespondentin Uta Wilke erinnert sich an ihre Begegnungen mit Bantzer und an zwei seiner Leitsätze: „Ich bestimme als Oberbürgermeister!“ und „Ein Chef, der die Stadt nur noch verwalten kann, sollte aufhören.“