Auf den Spuren der Kieler Fußballhistorie

Als Holstein Kiel am 13. Januar den Triple-Sieger Bayern München schlug, war eine ganze Stadt im Fußballfieber, dem sich trotz Lockdown kaum jemand entziehen konnte. Kiel – bundesweit eher ein unbeachteter Fleck auf der Fußball-Landkarte – ist plötzlich in aller Munde. Dabei hat das Kicken in der Landeshauptstadt eine lange Geschichte. Die Zeugen Kieler Fußballhistorie springen nicht immer so ins Auge wie die Flutlichtmasten des Holstein-Stadions über der B76. Aber es gibt sie. Eine Spurensuche. Wo der Pokalheld die Schulbank drückte: Meine Tour beginnt an der Max-Planck-Schule am Winterbeker Weg 1. Der Hauptdarsteller des „Pokalwunders von der Förde“ besuchte das Gymnasium – zumindest bis zur 11. Klasse. Nach zwei Extrarunden entschied der damals 18-jährige Regionalligaspieler bei den Störchen: Ich kann es schaffen zum Fußballprofi. Und Fin Bartels sollte Recht behalten. Die Max-Planck-Straße führt mich an der Schulhofmauer entlang Richtung Moorteichwiese. Auf der linken Seite stürzte im Dezember 2010 mit einem lauten Krachen ein Teil der Kellergewölbe der ehemaligen Kieler Actien-Brauerei ein. Umfasst von dicken, alten Backsteinmauern ist an dieser Stelle eine Aussichtsplattform entstanden. Mutter und Sohn kicken auf dem Asphalt den Ball hin und her, als ich vorbeigehe. „Wie viel steht’s?“, ruft der Junge, seine Stimme überschlägt sich. Mehr Fußball werde ich heute wohl nicht sehen. Einer der schönsten Fußballplätze Kiels liegt an der Moorteichwiese: Ich steige die Stufen hinab zum Moorteich, der dem Park seinen Namen gibt. An nasskalten Tagen gilt hier: „Vorsicht: Rutschgefahr!“ Ich halte mich rechts und laufe auf die Heimstätte des FC Süd Kiel zu. Die Frage nach dem schönsten Fußballplatz in Kiel wird oft mit der Waldwiese des VfB oder dem Kilia-Platz mit seiner hochbetagten Holztribüne beantwortet. Der Platz auf der Moorteichwiese, mit dem Hang auf der Hintertorseite, dem Verkehrsrauschen vom Heuss-Ring, der Laufbahn mit der markant, roten Spielfeldbegrenzung, dieser Platz steht auf meiner Liste zumindest weit oben. Ich verlasse den am frühen Vormittag noch im Nebel liegenden Park über die Johann-Meyer-Straße, laufe einen kleinen Schlenker über den Königsweg auf das Sophienblatt zu und biege rechts Richtung Gablenzbrücke ab. Gibt es noch einen besseren Blick über die Stadt? Eine Treppe führt mich hinunter zur Hörn. An der Förde entlang geht es zum Bahnhofsplatz. Am Hauptbahnhof begann die Reise der Störche: 1899 wurde das heutige Bahnhofsgebäude eröffnet. Ein Jahr später, am 7. Oktober 1900, brechen von hier neun junge Männer nach Lübeck auf. Der Turnrat des KMTV, ihr Mutterverein, hat ein Freundschaftsspiel gegen die Lübecker Turnerschaft zwar untersagt, doch das ist den Fußballrebellen egal. Der Kieler Fußball-Verein von 1900, Vorgänger der KSV Holstein, gründet sich noch auf der Fahrt nach Lübeck. 120 Jahre später bereitete eben diese KSV Holstein der Weltauswahl des FC Bayern, die im Atlantic Hotel gegenüber des Hauptbahnhofs ihr Quartier bezogen hatte, eine schlaflose Nacht. Ehemalige DFB-Zentrale in der Dänischen Straße: Mein Weg führt mich weiter über das Sophienblatt, die Andreas-Gayk-Straße in Richtung Alter Markt und schließlich in die Dänische Straße. Hier im Haus mit der Nummer 24 wurden einst die Geschicke des heute größten nationalen Fußballverbandes gelenkt. Einen Hinweis darauf suche ich am Eingang zwischen Kelly’s Herrenmodeladen und dem Lüneburg-Haus zwar vergebens, doch es stimmt: 1915 übernahm der Kieler Fußball-Pionier Georg Paul Blaschke ehrenamtlich die Geschäftsführung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und verlegte die Geschäftsstelle an seinen Wohnort in die Dänische Straße 24 – in den dritten Stock, wie ein Eintrag aus einem Kieler Adressbuch von 1919 verrät. Was Blaschke wohl zu Sommermärchen-Affären, Steuer-Razzien und den Machtkämpfen der heutigen DFB-Repräsentanten sagen würde, frage ich mich, als ich durch den Ratsdienergarten um den kleinen Kiel laufe. Auf Höhe des Hiroshimaparks biege ich in die Beamtenlaufbahn ein. Die ursprünglich volkstümliche Bezeichnung für die kürzeste Verbindung zwischen Polizeipräsidium und Rathaus ist seit 1961 der amtliche Straßenname. Der steile Weg führt mich zur Muthesius Kunsthochschule. Die Route in einer interaktiven Karte: Was das Schild „Festung Westring“ bedeutet: Dass Fußball und Kunst gar nicht so wenig miteinander verbindet, erkannte übrigens schon Bertolt Brecht. Nach dem Besuch eines Spiels meines Herzensvereins Schalke 04 schrieb er: „Fußball ist wie alle große Kunst einfach. Jeder Zuschauer ist spätestens nach drei Spielen Kenner. Das Publikum ist also ausschließlich aus Kennern zusammengesetzt.“ Über den Lessingplatz geht es quer durch den Schrevenpark in die Freiligrathstraße. Von hier aus ist der wohl zentralste Fußballplatz der Landeshauptstadt bereits zu sehen – der Professor-Peters-Platz, Heimat des VfB Union-Teutonia Kiel. „Festung Westring“ steht auf einem Schild am Vereinsheim. Es erinnert an den 2009 verstorbenen Kieler Lyriker Klavki, der die gleichnamige Stadionzeitung herausbrachte. Durch das Eingangstor aus Klinkersteinen werfe ich einen sehnsüchtigen Blick auf den Platz, ehe es mich weiterzieht. Vom Westring biege ich links in die Eckernförder Straße und rechts in die Metzstraße ein. Ein Fehler: Am „Dönerdreieck“ bekomme ich Heißhunger. Zum Glück ist das Ende meiner Tour in Sicht. Über den Kronshagener Weg und die Chemnitzstraße erreiche ich den Schützenpark. Götz' Schlappe vor dem Kieler Arbeitsgericht: Am 21. Januar 2010 wird auf der gegenüberliegenden Straßenseite – im vollbesetzten Saal 15 des Arbeitsgerichts – die Klage des Ex-Holstein-Trainers Falko Götz gegen seine fristlose Kündigung bei den Störchen verhandelt. Götz soll nach einer Niederlage in Braunschweig seinen Spieler Marco Stier zunächst verbal attackiert und dann drei Mal mit dem Handballen gegen die Stirn geschlagen haben. Nach Anhörung der Zeugen hat Richterin Sabine Göldner-Dahmke keine Zweifel: Götz hat eine „die fristlose Kündigung begründende Tätlichkeit im Sinne des Arbeitsrechtes begangen“. Doch Götz und sein Anwalt legen Berufung ein. Mit Erfolg: Ein Jahr später einigen sich beide Partien auf eine Abfindung in Höhe von 750000 Euro. Vom Gericht sind es nur noch wenige Hundert Meter zum Start meiner Tour – dem Winterbeker Weg. Die Straße rauf, im Haus Nummer 49, hat der Schleswig-Holsteinische Fußballverband seinen Sitz. Hier wird dieser Tage entschieden, wie die Saison 2020/21 noch über die Bühne gebracht wird. Es könnte ein weiteres Kapitel Fußballhistorie sein, das in Kiel geschrieben werden.

Serie: Spazieren in Kiel - Spurensuche Fußballhistorie in Kiel