Serie "Spazieren in Kiel": Zeitreise durchs Vieburger Gehölz

Los geht’s am THW-Vereinsheim. Hier haben die Handballer der Liga-Mannschaft in den 90ern nicht nur ihre Deutschen Meisterschaften gefeiert, sondern mussten auch ihre fünf Kilometer Laufrunden durchs Gehölz starten. Ich lasse es an diesem Morgen ruhiger angehen. Mit Hund und Tochter werde ich zwar auch eine 5,5-Kilometer-Strecke zurücklegen. Aber anders als sonst joggen wir nicht, sondern richten links und rechts des Weges den Blick auf die Geschichte. Zeugnisse vergangener Jahrhunderte im uralten Wald: Der Wald soll ja uralt sein und zum großen Isarnho gehört haben, dem Eisenwald, der sich von der Schlei über Kiel bis nach Lübeck erstreckt hat. Auch heute findet man immer noch Relikte, die an vergangene Jahrhunderte erinnern. Man muss nur genau hinschauen. Aber erst einmal wird durchgeatmet. Die Luft ist eisig so früh am Morgen. Kaum haben wir den Wald betreten, blicken wir vor uns auf eine Waldlichtung, auf der noch milchig der Nebel liegt. Ich mag diesen Hügel mit Sicht auf die moorige Fläche. Und da bin ich nicht die Einzige. Bisweilen sieht man Spaziergänger, die genau hier auf dem weichen Waldboden rasten. Wir aber gehen weiter Richtung Hundewald. Das ist der Bereich des Vieburger Gehölzes, den Hund Gustav liebt, denn er und seine Kollegen haben freien Auslauf. Am Fuße des höchsten Turms in ganz Schleswig-Holstein: Für Kieler Verhältnisse wandern wir nun ziemlich steil bergauf. Lohnt sich der Anstieg? Schon – denn von hier oben hat man einen Blick über ganz Kiel. Leider sieht man die Stadt vor lauter Bäumen nur fragmentiert. Da träumt man sich auf den Fernsehturm, auf den wir jetzt schnurstracks zugehen. 226,9 Meter ragt er vor uns in den Himmel. Das Bauwerk von 1975 ist nicht nur das höchste Bauwerk der Stadt, sondern ganz Schleswig-Holsteins. Am späten Nachmittag des 3. Novembers 1918 starteten Arbeiter und Matrosen hier ihre Demonstrationen: Für uns geht es weiter Richtung Vergangenheit. 1918 starteten auf dem einstigen Exerzierplatz des Vieburger Gehölzes Demonstrationen zum Kieler Matrosenaufstand. Am 3. November gegen 17.30 Uhr versammelten sich an dieser Stelle mehr als 5000 Menschen. Die Stimmung war aufgeladen. Einer der Revolutionäre ritzte einen Reichsadler in eine stattliche Rotbuche. Der Baum steht heute noch zentral in einer Weggabelung. Und auch der Reichsadler ist in einer Höhe von vielleicht sechs Metern immer noch sichtbar. Proteste gegen vielspurige Straßen und den Ausbau eines Verkehrsknotenpunktes direkt am Gehölz: Wir verlassen den Hundewald und schauen, was heutige Aktivisten so treiben. Seit geraumer Zeit sind einige im Vieburger Gehölz aktiv. Ein Bündnis aus 13 Kieler Verbänden vom Nabu bis Greenpeace will unter dem Namen „Vorfahrt für den Klimagürtel“ die Straßenausbaupläne des Bundes stoppen. Die Transparente von der letzten Aktion, als sich mehrere Umweltaktivisten in Bäume gehängt hatten, flattern noch in den Ästen. Die Proteste richten sich gegen den Ausbau der A 21. Direkt am Gehölz ist bis 2030 ein riesiger Verkehrsknotenpunkt geplant. Dort sollen sich die zur A 21 ausgebaute B 404 und die dann neugebaute vierspurige B 202 treffen. Zweifellos hat das drastische Folgen nicht nur für diesen Wald. „Die Südspange ist ein Eingriff in den Kieler Grüngürtel“, kritisiert Hartmut Rudolphi. Der Nabu-Chef hat schon mehrfach zu dem Thema referiert – im Kieler Waldhaus. Das Waldhaus hat eine fast hundertjährige Geschichte : An dem Gebäude kommen wir jetzt auch vorbei. Es steht mitten im Vieburger Gehölz und hatte in seiner Geschichte viele Funktionen. 1926 wurde es als Waldschule gebaut, ab 1935 war es Herberge für Kriegsheimkehrer, dann Dusch- und Umkleideraum für die Feldhandballer des THW, zwischendurch eine WG, zuletzt Forsthaus, und seit 18 Jahren nutzt es der Verein Kieler Waldhaus für naturpädagogische Angebote, als Ort der Bildung und Begegnung, wie Vereinsmitglied Kerstin Potapski berichtet. „Wenn Corona überstanden ist“, sagt sie, stehe das Waldhaus wieder jedem offen. „Spaziergänger können im Garten Minze pflücken und sich hier einen Tee kochen.“ Ein Heißgetränk könnten wir jetzt auch gebrauchen. Aber in der Pandemie wird man bescheiden. Wir marschieren weiter. Vorbei am Waldkindergarten, wo sich die Kids an einem Lagerfeuer wärmen. Hinter ihrem Bauwagen haben sie sich ein kleines Outdoor-Paradies aufgebaut mit Miniatur-Plumpsklo im Freien. Der verwunschene Weg durch eine Lindenallee zur alten Hofstelle Vieburg: Der Weg neben der Kita führt durch eine Allee mit prächtigen Linden – 62 sind in die Liste der Kieler Naturdenkmale eingetragen. So gelangt man zum Festplatz mit Waldbühne, wo sich von 1614 bis 1946 der Hof Vieburg befand. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 pflanzte jemand im Gutspark eine Friedenseiche, die steht noch immer. Versteckt etwa 20 Meter dahinter befindet sich das Highlight des Waldes für Kinder: eine Autoreifenschaukel an einem meterhohen Seil direkt an einem Hang. In der Pandemie kommt die fünfjährige Emma mit ihrer Mutter Sabrina Möhle jeden Tag hierher. Nur sehr alte Vieburger wissen noch, was es mit dem Betonwasserbecken wohl aus den 20er Jahren auf sich hat : Irgendwann treffen wir abseits des Weges zur Rechten auf ein vermoostes Betonwasserbecken von etwa 15 Meter Durchmesser. Nur wenige Vieburger wissen noch, was es damit auf sich hat. Lisa Simon (geboren 1925) kennt die Funktion. „Zu meiner Kindheit war es eine Art Planschbecken, eingebunden in eine wirklich wunderschöne Parkanlage mit gepflegten Rasenplätzen“, erzählt sie uns. Von einem noch älteren Nachbarn wissen wir, dass die Anlage nach dem Ersten Weltkrieg in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme errichtet wurde, hier badeten kleine Kinder, und die Mütter saßen auf rotgestrichenen Parkbänken. Unter den Erdhügeln sind Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg versteckt: Im Zweiten Weltkrieg waren an dieser Stelle Soldaten stationiert, ihre Aufgabe war wohl das Vernebeln des Meimersdorfer Güterbahnhofs. Heute ist es ein stiller Waldweg. Als Zeugen des Bombenkrieges befinden sich auf der linken Seite des Weges noch einige Erdhügel. Darunter verborgen drei Betonbunker, die dem Schutz der Soldaten dienten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in den Soldatenbaracken noch jahrelang Flüchtlinge. Die Geschichte führt bis ins Reich der russischen Zaren: Bevor wir unseren geschichtsträchtigen Spaziergang durch den Stadtwald beenden, gehen wir nun nicht geradeaus den Berg hoch in den Petersburger Weg, sondern biegen links ab Richtung Hof Petersburg. Sieht man vom Waldrand über die Felder, lässt er sich schemenhaft erkennen. Vor knapp 300 Jahren ließ sich dort Karl-Friedrich, Herzog von Holstein-Gettorf, nieder. Nach dem frühen Tod seiner Gemahlin Anna Petrowna, der ältesten Tochter von Peter dem Großen, Zar von Russland, zog er sich auf seine Kieler Besitzungen zurück. Seiner verstorbenen Frau zu Ehren benannte er den Hof Petersburg nach der russischen Hauptstadt. Kurz vor ihrem Tod gebar Anna Petrowna im Kieler Schloss übrigens einen gemeinsamen Sohn. Kaum 40 Jahre später bestieg der Spross als Zar Peter III. den Thron in St. Petersburg. Schon sechs Monate später wurde er allerdings gestürzt und kam zu Tode. Aber das ist eine andere düstere Geschichte. Und die kann uns jetzt nicht mehr die Stimmung vermiesen. Meine Tochter Pia und ich blinzeln in die Sonne. Der Himmel ist nun strahlend blau. Wir treten den Rückweg an. Der Tag kann beginnen.