Tochter von Heimbewohner aus Kiel klagt an: "Schlimmer als im Gefängnis"

Der 72-jährige Kieler Dieter M. darf in dem Magda-Theede-Haus in Kiel, in dem er seit fast einem Jahr lebt, nicht mehr als ein- bis zweimal wöchentlich eine Stunde Besuch empfangen. Telefonieren kann er nicht. Tochter von Heimbewohner Dieter M.:"Schlimmer als im Gefängnis": In ihrer Verzweiflung über die Situation wenden sich die Angehörigen nun an die Öffentlichkeit. In einem offenen Brief schreibt die Tochter Eva-Maria Hasch (51): „Die Profitgier der Betreiber der Seniorenheime und das Wegsehen von Ämtern, Politik und Gesellschaft lässt die alten und pflegebedürftigen Menschen nicht an Corona sterben, sondern an Vereinsamung, mangelnder Aufmerksamkeit und Pflege.“ Auch jetzt noch, Monate nach dem Lockdown, lebe ihr Vater in dem Ellerbeker Heim abgeschottet, die wenigen Besuche „laufen schlimmer ab als im Gefängnis – immer unter Aufsicht des Heimpersonals“. Weitere Kontakte zum Vater seien gar nicht möglich, da er wegen versteifter Finger nicht in der Lage sei zu telefonieren und keine Hilfe bekäme. Eva-Maria Hasch klagt: „Meinem Vater geht es zunehmend schlechter. Ihm fehlen die Kontakte zur Familie, die Berührungen, die Gespräche, die Mobilisierung.“ Als Angehörige stehe sie der Situation hilflos, traurig und wütend gegenüber. Kennen Sie schon die Post aus dem Newsroom? Den kostenfreien Newsletter über die aktuelle Lage in Schleswig-Holstein versenden wir Mo-Fr ab 17 Uhr. Hier können Sie sich für unser Mailing anmelden. Weiterer Newsletter: Kiel mittendrin. Über das Leben in der Landeshauptstadt. Verpassen Sie keine Neuigkeit mehr. Versand: Jeden Mittwoch. Hier geht es zur kostenfreien Anmeldung. Sie interessieren sich für Holstein Kiel? Dann melden Sie sich hier für den Newsletter " Holstein Kiel - Die Woche " kostenfrei an. Versand: jeden Freitag, 11.30 Uhr. Heimleiter stand für ein Gespräch mit den Kieler Nachrichten nicht zur Verfügung: Mit ihren Sorgen hat sich die Tochter an die Heimleitung gewandt, ohne dass sich etwas an der Situation geändert habe, sagt sie. Für ein Gespräch mit den Kieler Nachrichten stand der Residenzleiter des Magda-Theede-Hauses wegen einer Erkrankung nicht zur Verfügung. Ein Sprecher des Pflegekonzerns Alloheim in Düsseldorf, dem Betreiber der Pflegeeinrichtung, weist die Vorwürfe zurück. Er bestätigte allerdings die Besuchsregelung im Magda-Theede-Haus, nach der die Bewohner wöchentlich maximal einen einstündigen Besuch von zwei Personen oder zwei einstündige Besuche von je einer Person erhalten dürfen. Diese Regelung ist Teil eines individuellen Corona-Hygienkonzepts des Heimes. Warum Dieter M. keine Unterstützung bekommt, um mit seinen Angehörigen zu telefonieren, erklärt der Sprecher damit, dass derartige „Hilfestellungen einer engen individuellen Abstimmung zwischen Angehörigen und der Einrichtung bedürfen. Diese ist im konkreten Fall nicht erfolgt.“ Städtische Heimaufsicht hatte bei erneuter Prüfung keine Mängel mehr festgestellt: Das Verhältnis zwischen Pflegeheim und Angehörigen ist offensichtlich gestört. Hasch hatte sich mit Kritik zum Pflegezustand ihres Vaters bereits zweimal an die städtische Heimaufsicht gewandt. Im Februar hatte die Behörde mehrere Mängel festgestellt, nach der jüngsten Prüfung im September aber resümiert, dass Dieter M. „angemessen gepflegt und betreut wird“. Für das Besuchskonzept ist die Heimaufsicht allerdings nicht zuständig. Doch gerade hier liege das größte Problem, so Hasch. Denn auch die Besuchszeiten (wochentags von 9 bis 11 und 14 bis 16 und sonnabends von 9 bis 11 Uhr) seien für sie als Berufstätige schwierig. Aus all diesen Gründen würde sie gern für ihren Vater ein anderes Pflegeheim suchen. Aber wie, wenn man in Coronazeiten die Heime nicht besichtigen könne? Lesen Sie auch: Ab Freitag Maskenpflicht in der Bahnhofstraße in Bordesholm Tochter von Heimbewohner klagt an: "Schlimmer als Gefängnis" Herbstferien in Schleswig-Holstein: Das gilt nach dem Urlaub oder Transit Hier gibt es 2020 in Schleswig-Holstein Weihnachtsmärkte An diesen Schulen und Kitas gibt es Corona-Fälle Aktuelle Statistik: So viele Corona-Infizierte gibt es in Schleswig-Holstein Dieter M. aus Kiel fehlt der Besuch im Pflegeheim: Ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht, und Dieter M. bleibe im Heim bis auf Weiteres „permanent allein“, klagt seine Tochter. Dabei sei es noch nicht lange her, dass er mitten im Leben stand. Nach einem Arbeitstag im Januar 2019 erlitt er im Supermarkt einen Herzanfall, fiel monatelang ins Koma und ist nun voll pflegebedürftig. In der Zeit des Lockdowns und der kontaktarmen Zeit danach habe er deutlich abgebaut, schildert Hasch: „Er spricht kaum noch, hat Wortfindungsstörungen, ist depressiv und kaum noch in der Lage, sich zu bewegen“. Vor Corona seien seine Kinder und Enkelkinder häufig im Heim gewesen. Seine Ehefrau habe ihn täglich für mehrere Stunden besucht, seine steifen Hände bewegt, ihm vorgelesen. So sei es ihm zunehmend besser gegangen. Thema im Landespflegeausschuss: Jetzt sei der Einfluss der Familie sehr gering: „Wir sehen ihn nur hinter der Maske. Bei Besuchen sind Berührungen nicht erlaubt. Und immer ist einer vom Heim dabei, der mit Argusaugen beobachtet, dass man keinen Fehler macht.“ Alloheim bestreitet dieses Vorgehen. Hasch hat den offenen Brief verschickt, da sie vermutet, „dass es nicht dem Willen der Landesregierung entspricht, wenn Pflegeheimbewohner von ihren Angehörigen derart isoliert sind“. Ein Sprecher der Staatskanzlei erklärte, der Brief sei zum Anlass genommen worden, im Landespflegeausschuss darauf hinzuweisen, dass Besuche von Angehörigen zu ermöglichen sind. Zu Beginn der Pandemie erließ das Land ein strenges Betretungsverbot für Pflegeheime. Seit dem 15. Juni mussten die Einrichtungen Besuche wieder zulassen und dafür ein individuelles Konzept vorlegen. Dazu heißt es in den Empfehlungen der Landesregierung: „Ältere Menschen mit Pflegebedarf stellen eine besonders vulnerable Personengruppe dar, die höchsten Schutz benötigt. Dieser Schutz darf aber nicht zu einer längerfristigen sozialen Isolation führen.“ Bei anhaltender Pandemie müsse daher dauerhaft ein Ansatz verfolgt werden, der den Gesundheitsschutz von Bewohnern und Personal sicherstelle, die Versorgungssicherheit aufrechterhalte und zugleich „im Hinblick auf die einhergehenden tiefgreifenden Einschränkungen der Rechte der betroffenen Menschen mit Pflegebedarf (sowie ihrer Angehörigen) Grundrechtsbeschränkungen nur im hierfür absolut notwendigen Umfang“ vorsehe. Rechtlich gilt: Freiheitsbeschränkende Maßnahmen für Bewohnern von Pflegeeinrichtungen dürfen nur durch einen Richter, das Gesundheitsamt oder die Landesregierung aufgrund des Infektionsschutzgesetzes angeordnet werden. Sozialdezernent: "Pflegebedürftige und Angehörige haben das Recht, sich zu sehen": Sozialdezernent Gerwin Stöcken kann und will sich nach eigenen Worten zu dem konkreten Fall nicht äußern. Er berichtet aber, er habe bei Besuchen in Pflegeheimen „viele tolle Ideen gesehen, wie man Begegnung, Kontakt, auch Berührung ermöglichen kann. Und ich erwarte von jeder Einrichtung, dass sie kreativ ist, um den Menschen gerecht zu werden – sowohl den Pflegebedürftigen als auch den Angehörigen, denn beide haben das Recht, sich zu sehen und miteinander zu reden, ohne dass immer jemand dabei ist“. Stöcken ergänzt: „Wenn ich Heimleiter wäre, würde ich mich anstrengen, intensiven Kontakt zu ermöglichen. Eheleute sollten die Möglichkeit haben, sich täglich zu sehen.“ Eva-Maria Hasch wünscht sich ebenfalls ein „kreativeres Konzept des Heimes“, bei dem mehr Besuche möglich sind, der Schutz aber gewahrt bleibt. „Ich habe ja selbst kein Interesse, meinen Vater anzustecken.“ Die 51-Jährige ist überzeugt, dass sie mit dem Anliegen nicht allein ist.