Trinker-Szene:Wenn Suchtdruck die Corona-Angst besiegt

In Gaarden befindet sich vor dem Rewe Ecke Karlstal und Elisabethstraße ein etablierter Treffpunkt für Menschen aus der "Trinkerszene". Auch in diesen Tagen stehen dort oft mehrere Leute nah zusammen, obwohl das seit der Landesverordnung Mitte März zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht erlaubt ist. Laut Ordnungsamt stieg nach dem 15. März die Zahl der Verstöße am Karlstal daher erst steil an, denn die neue Abstands-Verordnung war noch nicht allen vertraut, sagt Rajko Wengel vom Kommunalen Ordnungsdienst (KOD). Tägliche Kontrollen am Szene-Treff: Er wisse um das Klientel am Karlstal und die Probleme. "Wir kommen dort jeden Tag vorbei und es wird engmaschig kontrolliert. Wir könnten aber wahrscheinlich alle 15 Minuten längsfahren, das kann ich mit 16 Außendienstmitarbeitern für ganz Kiel nur nicht leisten", sagt Wengel. Der Treffpunkt der "Trinkerszene" werde schon priorisiert behandelt, doch mit den neuen Abstandsverstößen haben sich frühere Aufgabenbereiche des KOD nicht erledigt. Man müsse sich auch weiterhin um illegale Müllablagerungen oder nicht angeleinte Hunde kümmern. "Wir arbeiten am Karlstal aber auch mit der Polizei zusammen. Meist sind die Leute, die sich dort treffen, einsichtig, wenn wir sie auffordern, zu gehen. Wenn nicht, und das passiert natürlich auch, rufen wir Polizei dazu." Immer wieder Platzverweise und Aufforderungen der Polizei: Die Polizei kann bestätigen, dass hier seit Beginn der Corona-Beschränkungen mehr Platzverweise ausgesprochen wurden als zuvor. "Mehrfache Aufforderungen an den gleichen Personenkreis hat es gegeben. Das liegt allerdings daran, dass sich dort jeden Tag im Prinzip die gleichen Personen aufhalten und erneut daran „erinnert“ werden müssen", sagt Sprecher Matthias Arends. Die täglichen Kontrollen haben jedoch keinen ausschließlich repressiven Charakter, sondern dienen vielmehr dazu, die anwesenden Personen aufzuklären und auf die Gefahren der Pandemie hinzuweisen, sagt Arends. Corona ist in sozialen Einrichtungen Thema und wird ernst genommen: Aufklären will auch Sozialarbeiter Philipp Kirchhoff. Er arbeitet schräg gegenüber vom Rewe in der Verbindungsstraße im "Grünen Eck", ein Garten und sozialer Aufenthaltsort von der Stiftung für Kinder-, Jugend- und Soziale Hilfen. Hier kommen ebenfalls Menschen aus der Szene zusammen, die unter anderem mit Arbeitslosigkeit und Abhängigkeiten zu tun haben. Corona ist im Garten täglich Thema, sagt Kirchhoff. "Viele der Leute, die zu uns kommen, nehmen das schon ernst. Manche tragen auch einen Mundschutz." Aktuell kämen etwa nur halb so viele Menschen wie vor Corona, gut 20 Personen über den Tag verteilt. Wer kann, bleibt zu Hause. Deshalb hat Abstand für einige Menschen aus der Trinker-Szene keine Priotität: Warum es den Menschen aus der Szene aber so schwer fällt, an Abstand zu denken, kann Kirchhoff erklären. "Der Treffpunkt ist deren Wohnzimmer. Dort sehen die Leute sich, tauschen sich aus und natürlich werden dort auch Drogen verkauft und gekauft. Die Sucht zwingt einen oft, hinzugehen." Kennen Sie schon die Post aus dem Newsroom? Den kostenfreien Newsletter der Kieler Nachrichten versenden wir Mo-Fr ab 17 Uhr. Hier können Sie sich für unser Mailing anmelden. Sie interessieren sich für Holstein Kiel? Dann melden Sie sich hier für den Newsletter " Holstein Kiel - Die Woche " kostenfrei an. Versand: jeden Freitag, 11.30 Uhr. Der Sozialarbeiter schätzt, dass sich zudem für viele der Menschen nichts im Tagesablauf geändert hat und die gesundheitliche Bedrohung dadurch abstrakter wird, im Vergleich zu jemandem, der aktuell nicht mehr zur Arbeit geht oder etwa auf den Zahnarzt-Termin verzichtet. "Auch wenn das Thema Corona präsent ist und verstanden wird und obwohl viele um ihr durch die Drogen geschwächtes Immunsystem wissen - steigt der Suchtdruck, ist der Gedanke an die eigene Gesundheit nicht mehr wichtig." Den Menschen im Grünen Eck fehlen Geld und soziale Kontakte: Einer, der die Lage vor Ort kennt, ist Lukas (Name von der Redaktion geändert). Durch die Corona-Lage sieht er sein Sozialleben quasi eingefroren. "Ich war stolz auf mich, weil ich lange Zeit gar nicht viel getrunken habe. Aber jetzt bin ich durch Corona oft allein und die Gedanken kreisen und nun ist es wieder mehr geworden." In der Einrichtung, in der er wohnt, laufe der Kontakt zu den Ansprechpartnern derzeit meist nur übers Telefon. Viele bekannte Gesichter sieht er derzeit nicht. Lesen Sie auch: Eine warme Mahlzeit für Obdachlose "Normalerweise verkaufe ich auch die Hempels-Zeitungen, das fällt ja aber auch weg. Und deshalb habe ich diesen Monat auch deutlich weniger Geld, das merke ich", sagt Lukas. Ob er sich in diesem Monat Guthaben für sein Handy leisten kann, weiß er nicht. Für ihn kommt zusätzlich die Sorge einer Infektion hinzu. "Ich denke, ich werde mich irgendwann infizieren. Das wird kommen, jetzt wo der Lockdown gelockert wird. Das kann uns alle treffen." "Wenn der Suchtdruck kommt, ist dir Corona völlig egal": Bei den Leuten aus der Szene stand Lukas früher auch, jetzt aber nicht mehr. Trotzdem weiß er: "Die Leute dort sind nicht da, um Abstand zu halten, die sind da, um Geschäfte zu machen." Das Thema Corona sei vielen durchaus bewusst. "Doch wenn dir ein Zehner fehlt und der Suchtdruck kommt, ist dir Corona völlig egal, dann gehst du raus." Weder Lukas noch Philipp Kirchhoff haben bisher von konkreten Strafen gehört, die wegen der nicht Einhaltung des Abstandes verhängt wurden. Auch kennen sie noch keinen aus der Szene mit einer bestätigten Corona-Infektion. Beide hoffen, dass das so bleibt. So funktioniert das niedrigschwellige Projekt "Grünes Eck": Im Szenegarten "Grünes Eck" bekommt jeder bedürftige Kieler, der im Garten mithilft, einen Euro pro Stunde gezahlt. Alkohol darf dabei konsumiert werden. Illegale Drogen sind nicht erlaubt. Zudem bekommt jeder eine warme Mahlzeit in der Anlaufstelle "Flexwerk", der mindestens eine Stunde mitgeholfen hat. Auch einen Bonus kann man sich verdienen: Wer 20 Tage am Stück regelmäßig dabei ist, erhält zehn Euro extra. Das Grüne Eck hat montags bis freitags von 9 bis 15 Uhr geöffnet. Einen Kontakt findet man in der Anlaufstelle „Flexwerk“, Johannesstr. 55 oder unter Tel: 0431-5301133. Corona-Liveblog: So ist die aktuelle Lage in Schleswig-Holstein So viele bestätigte Corona-Fälle gibt es in Schleswig-Holstein Die Lockerungen seit dem 20.4 im Detail Maskenpflicht: Andrang auf Stoffläden in Kiel Auch Saturn und MediaMarkt öffnen wieder Fünf neue Infektionen in Kiel KN-Bühne: Diese Künstler aus der Region treten vom 21. bis 26. 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