Vier Jahre lang schreibt der Holtenauer Heinrich Magnus Ivens von den Schlachtfeldern an seine Frau

Die Front in Frankreich ist nicht weit. Rund 34 Kilometer vor Verdun macht der Pioniertrupp von Heinrich Magnus Ivens an diesem Tag halt. Hier in der leicht hügeligen Gegend bei Spincourt haben bereits schwere Kämpfe stattgefunden. Die Spuren sind unübersehbar: „Abgebrannte oder zerschossene Dörfer, Gräber nichts als Gräber, Gepäck und Ausrüstungsgegenstände liegen herum“, notiert der 36-jährige Holtenauer in einem Brief an seine Frau Emmy. Es ist der 18. Oktober 1914, vier Uhr nachmittags. Für Ivens ist es der 79. Tag im Ersten Weltkrieg. Dass noch viele weitere Tage, gar Jahre, folgen werden, ahnt er noch nicht. Ivens, Baumeister und Architekt, überlebt den vierjährigen Krieg. Die Erlebnisse des Schleswig-Holsteiners können nun – 100 Jahre nach Ausbruch der Weltkatastrophe am 1. August 1914 – nachgelesen werden. Seine Tochter Ingelene Rodewald, Jahrgang 1922, hat in ihrem neuen Buch „Meine liebe kleine Frau“ sämtliche Briefe, Postkarten und Fotos ausgewertet, die Ivens in seine Heimat geschickt hat. „Ein wahrer Schatz“ seien die Originalschriften, sagt die 92-jährige Herausgeberin. Das Material, das sie über Jahrzehnte in unzähligen Ordnern verwahrte, umfasst sämtliche Kriegsjahre zwischen 1914 und 1918. Das nun im Ludwig-Verlag erschienene Werk konzentriert sich zunächst auf die ersten Monate im Jahr 1914. Band zwei für das Jahr 1915 ist jedoch bereits in Arbeit. Ob Truppentransporte, die Situation auf den Schlachtfeldern oder das Zusammenleben in der Kompanie – in seinen Aufzeichnungen schildert Ivens, der als Eisenbahnpionier in Frankreich, Belgien und Polen eingesetzt wurde, detailliert und in kurzen Abständen den Kriegsalltag im Feld. Er schreibt über die Landschaften, aber auch über die Bauwerke, die er unterwegs wahrnimmt. „Mein Vater ging wie ein Berichterstatter durch den Krieg“, sagt Ingelene Rodewald. Er habe Kirchen, Treppen, Holzschnitzereien skizziert. „Meine Mutter hätte wohl lieber Liebesbriefe gehabt“, sagt sie. Aber über Gefühle schrieb der Soldat weniger, hielt eher fest, was er sah. Dabei glaubt er am Anfang noch an ein schnelles Ende: „Wir haben das Gefühl, dass der Aufmarsch bald beendet ist, und dann gibt es tüchtig Arbeit“, schreibt er am 16. August. Doch schon einen Monat später muss er seinen Zeithorizont neu vermessen. Bei Spincourt baut er eine Bahnstrecke, über die Mörser-Geschütze nach Verdun geliefert werden sollen. Dabei träumt er von einem Wiedersehen mit seiner Frau: „Wenn es zu Weihnachten nicht sein kann, dann eben zu Ostern.“ Ginge es nach ihm, dann würde er lieber früher als später zurück nach Holtenau, dort oben im Norden, wo er sich als junger Vater ein Familien- und Berufsleben aufgebaut hatte. „Der Einberufungsbefehl hat ihn völlig fertig gemacht“, sagt die Tochter heute. Ivens, 1878 in Itzehoe geboren, hatte in Darmstadt studiert und sich zwei Jahre vor Kriegsausbruch in Holtenau einen Bauplatz gekauft, darauf Werkstatt, Sägewerk und Zeichenbüro errichtet. Doch dann reißt der Krieg ihn aus dem Alltag – und er muss den Betrieb von heute auf morgen stilllegen. Aus der Ferne regelt er das Nötigste: Es fehle noch die Summe für den Entwurf einer Arbeiterdoppelhaushälfte, schreibt er am 15. November aus Chambley. Ingelene Rodewald ist mit dem Material sehr vertraut. Früher, als sie noch ein kleines Kind war, habe ihr Vater öfter die Kisten mit den Erinnerungen herausgeholt, Fotos gezeigt und dann erzählt. Und obwohl sie viele Schriftstücke kannte, sei es nicht einfach gewesen, die alte, verschwommene Schrift auf den Postkarten zu entziffern und neu zu erfassen. Doch sie sei froh, die Arbeit auf sich genommen zu haben. Ihr Vater, so sagt sie, habe den „Krieg nie überwunden“. Er habe die Notizen so detailliert angefertigt, weil er wollte, dass die Nachwelt Bescheid wisse über die Ereignisse von damals. „Vielleicht“, fügt Ingelene Rodewald hinzu, „setze ich die Arbeit meines Vaters mit dem Buch einfach nur fort.“

Erster Weltkrieg - Briefe aus dem großen Krieg