Von den Toten lernen Medizinstudentin aus Kiel

Nur wenige Menschen auf der Welt dürfen das, was Hanna Hildesheim gleich machen wird. Die 20-Jährige wird einen weißen Kittel überziehen, Skalpell und Pinzette herausholen und an einen Leichnam treten. Sie wird anfangen, die Haut zu präparieren, das Fett wegzuschaben, die Muskeln freizulegen und die Organe zu sezieren. Hanna Hildesheim ist Medizinstudentin. Zusammen mit 210 weiteren Drittsemestern wird sie das erste Mal in ihrem Leben einen toten Menschen aufschneiden. Der Präparierkurs des Anatomischen Instituts der Kieler Uni ist aber mehr als pure Medizin. Die Studenten beschäftigen sich neben dem Aufbau des Körpers auch zwangsläufig mit den großen Themen der Menschheit, mit Leben, Sterben und dem Tod. Im Erdgeschoss des Anatomischen Instituts ist alles vorbereitet. Auf großen Metalltischen liegen 19 Körperspender – noch unter weißen Decken verborgen. Ehrfürchtig betreten die Studenten den in Neonlicht getauchten Saal. Zuvor haben sie in der Vorlesung gelernt, wie man mit einem Skalpell umgeht, was bei Ohnmacht zu tun ist und dass – auch wenn es Tote sind – eine ärztliche Schweigepflicht besteht. „Es ist schon ein komisches Gefühl“, gesteht Hanna Hildesheim, während sie Tisch 16 sucht. „Ich weiß nicht genau, was mich erwartet.“ In wenigen Minuten wird sie „ihren“ Körperspender kennenlernen. Sechs Wochen lang wird sie täglich ein Stück von ihm abtragen, inspizieren, erforschen und ganz viel lernen. „Nur wer über den normalen Körperbau Bescheid weiß, kann krankhafte Veränderungen rechtzeitig erkennen“, so das Credo der Ärzte. Drei Tote hat die 20-Jährige bisher gesehen – beim Praktikum an der Kieler Uni-Klinik. Doch das hier ist etwas anderes. Behutsam hebt ein Tutor die weiße Decke von dem Körperspender vor Hanna Hildesheim und ihren neun Mitstudenten. Der Moment sei ziemlich „krass“ für sie gewesen, erzählt sie später. „Das ist kein Mensch“, schoss es ihr durch den Kopf. Durch die oft monatelange Fixierung in Formalin sind die Körperspender leicht entfremdet. Die Haut ist aufgedunsen, fahler und härter. „Das macht es leichter, den medizinischen Blick zu bekommen“, stellt Hanna Hildesheim fest und kann auch schon wenig später Skalpell Nr. 20 für den ersten Schnitt ansetzen. Am ersten Tag sind die zehn Studentinnen an Tisch 16 nur damit beschäftigt, die Haut vom Fettgewebe zu lösen. Keine leichte Aufgabe, schon nach kurzer Zeit glänzen die ersten Schweißtropfen auf der Stirn. Der leicht unangenehme Geruch im Raum nach Formalin, das die Verwesung verhindert, ist schnell vergessen. Im kompletten Saal wird konzentriert gearbeitet. Studenten höherer Semester und Anatomie-Professor Thilo Wedel geben Hilfestellungen und Erklärungen. „Ich sehe den toten Menschen und spüre, dass da was fehlt“, erzählt Hanna Hildesheim später beim Kaffee in einer kurzen Mittagspause. „Vielleicht ist es die Abwesenheit des Bewusstseins.“ Viele Gedanken hat sich die junge Frau aus Bonn bereits im Vorfeld gemacht. „Dürfen wir das?“, ist die zentrale Frage. In anderen Bundesstaaten und Ländern werden Körperspender nicht eingesetzt oder sind sogar verboten. Dort lernen die angehenden Mediziner mithilfe von 3-D-Computer-Animation und anhand von Kunststoffmodellen . Viele ausländische Studenten kommen deshalb bewusst nach Kiel, um von den Toten zu lernen. Viele Studenten kommen deshalb bewusst nach Kiel, um von den Toten zu lernen. Gelernt hat auch Hanna Hildesheim in ihren ersten drei Semestern viel. Nicht nur nackte Fakten aus dem Medizinbuch. „Beim Praktikum im Krankenhaus bekommt man mit, wie wichtig Erfahrung und Intuition sind“, erzählt sie. „Hier in Deutschland lernen wir Ärzte, super mit allen möglichen Geräten umzugehen. Ich glaube, genauso wichtig ist aber, dass man lernt, zu wittern, was der Patient hat.“ Bewusst hat sich Hanna Hildesheim nach dem Abitur für den Arztberuf entschieden. Ihr Vater ist Neurologe, die Mutter hat Philosophie und Germanistik studiert. „Bei Medizin wird Körper und Geist vereint. Das reizt mich.“ Lange hat sie vor dem Präparierkurs über die Frage nachgedacht, was der Mensch ist. „Wir sind ein Organismus, der den Gesetzen der Chemie und Physik folgt“, sagt sie. „Alles ist so fein aufeinander abgestimmt, so genial ergänzt, dass erst Leben entsteht, das nach Erhaltung und Vermehrung strebt, und dann, als qualitativer Sprung sozusagen, der Mensch mit seiner Selbsterkennung, seinem Sinn für Ästhetik und vor allem mit seinem Vermögen, sich zu erinnern und sich vorzustellen, daraus hervorgeht. Das ist schon genial.“ Letztlich würde uns das Zusammenspiel dieser biochemischen Prozesse körperlich und seelisch ausmachen, dadurch unsere „Seele“ entstehen. „Dies kommt durch den Tod zum Erliegen“, sagt sie. „Beim Sterben erlöschen unser Bewusstsein, unsere Erinnerungen – das, was uns als autobiografische Person ausmacht.“ Was übrig bliebe, seien Organe, funktionelle Zellverbände, die keinen Organismus mehr bilden würden und somit auch keinen Menschen. Dieser Gedanke macht es leichter, Körper Nr. 16 weiter kennenzulernen. Dort am Metalltisch, wo das Wunder „Mensch“ auf die Studenten wartet.

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