Verkanntes Harmonium: Gettorfs Kantorin präsentiert die ganze Klangvielfalt

In der Gettorfer Mühle Rosa sitzt Julia Uhlenwinkel an den Tasten, zieht alle Register, leistet ordentlich Beinarbeit. Ein Konzertabend rund um die Liebe hat sie im Namen von Windmühlenverein und Volkshochschule angekündigt. Das Publikum im Trauzimmer ist zuerst gespannt, dann überrascht, schließlich hingerissen. Hits der Band Abba, Filmmelodien wie „Dr. Schiwago“, Lale Andersens „Lili Marleen“ zaubert die Kantorin aus dem verzierten Holzkorpus hervor. Jedes Mal klingt es, als sei das auf einem anderen Instrument gespielt. Die Musikerin lächelt. Die Rechnung geht auf. „Ich bin begeistert, das Instrument für mich immer weiter zu entdecken, seine Möglichkeiten auszuloten“, bekräftigt sie später. Christine Strüfing und Burckhard Kasten vom Windmühlen- und Verschönerungsverein nicken angetan. Das Harmonium in der Mühle Rosa kam Bayern nach Gettorf: Ohne diese beiden stünde das vor mehr als 140 Jahren in den USA gebaute Instrument gar nicht hier. Strüfing bekam es 2018 als Spende aus Bayern für den Verein geschenkt. Der Großvater des Spenders, Hauptlehrer und Organist in Bayerisch-Schwaben, hatte es um 1900 in der einklassigen Dorfschule gespielt. Kasten organisierte den komplizierten Transport per Kran ins Obergeschoss der Mühle. Uhlenwinkel nahm es gleich unter die Lupe und testete den Klang. Die befürchtete Generalüberholung konnte der Verein nach dem ersten Spiel und dem Blick einer Orgelbauerin „unter die Haube“ auf unbestimmte Zeit vertagen. Lieblingspielzeug des Bürgertums, Orgel für die Stube nannte man das auf den ersten Blick seltsam anmutende Instrument abfällig. Und so versuchen es auch heute viele Erben, denen ein Harmomium hinterlassen wurde, schnell und billig loszuwerden – nicht ahnend, dass es sich nach aktueller Lesart um das jüngste der historischen Instrumente handelt. Gettorfs Kantorin Julia Uhlenwinkel muss Hände, Füße, Beine einsetzen: Julia Uhlenwinkel nimmt Platz und richtet die Beine ein. „Mit den Tretpedalen sorge ich für Unterdruck im Windmagazin. Herausgesaugte Luft versetzt kleine Durchschlagzungen im Inneren in Schwingung. Sie erzeugen die Töne“, fasst sie zusammen. „Im Prinzip funktioniert es wie beim Akkordeon, bei dem man auch eine Pumpbewegung vollführt. Die amerikanischen Variante, wie hier, nennt sich Saugwindharmonium. Das französische System hingegen drückt Luft ins Instrument, es ist also ein Druckwindharmonium.“ Und noch zwei Besonderheiten gibt es. Mit den Knien bedient sie die zwei Hebel für das Crescendo, das Anschwellen des Tons. Die Register verändern wie bei der Orgel die Klangfarbe. „Das ist entscheidend für die Vielseitigkeit.“ Die Klangfarben des Harmoniums wird mit Registern variiert: „Vox Jubilante“ ist gezogen. Sofort klingt es kirchlich-feierlich. Fast immer werden Klangfarben kombiniert. Die Kantorin zieht diverse Register. Bei den ersten Takt schon ist die Heiligkeit vergessen, die Jahrmarktsorgel lässt grüßen. Vor allem französische Komponisten würdigten die fröhlicheren Klangqualitäten ihrer Musik speziell fürs Harmonium. Uhlenwinkel schlägt ein historisches Notenbuch auf und greift in die Tasten. „August Reinhard, Buch der Lieder für Harmonium (mit Text) steht es golden auf dem Leineneinband. Für den 1912 gestorbenen Komponisten war das Instrument kein billiger Orgelersatz. Er schätzte seine Fähigkeit, „Orchestermusik“ zu erzeugen, hoch. Reinhard galt um die Jahrhundertwende „Harmoniumpapst“. Gleich wird es warm ums Herz, wenn sie „Seit ihn gesehen glaub’ ich blind zu sein...“ in Reinhards Version intoniert. Robert Schumann schrieb einst die Melodie auf das romantische Gedicht von Adelbert von Chamisso. So nostalgisch aber muss ein Harmonium durchaus nicht klingen. Gettorfs Kantorin entwickelt gerade ein buntes Repertoire aktueller Hits, die beim Harmoniumspiel eine neue Note bekommen. Aufs nächste Konzert im Mühlenzimmer darf man gespannt sein. Christine Strüfing und Burckhard Kasten können es kaum abwarten. Bei der Weltausstellung war das Harmonium Spitze Inspiriert ist das Harmonium für den Hausgebrauch von der Orgel. Auch sie arbeitet mit dem Luftstrom und teils mit Durchschlagzungen. Das sind Metallplättchen, die im Luftstrom schwingend einen Ton erzeugen. 1842 wurde das erste Druckwindharmonium aus Frankreich patentiert. Das mit Unterdruck arbeitende Saugwindharmonium mit weicherem Klang setzte sich etwas später durch. Die amerikanische Firma Mason & Hamlin gewann 1876 mit ihrem Saugwindinstrument bei der Weltausstellung in Paris den ersten Preis. In Deutschland wurde später über eine halbe Million dieser Instrumente gebaut. Mehr Nachrichten aus der Region Eckernförde lesen Sie hier.

Musikvielfalt in Gettorf - Harmonium, das verkannte Instrument