Diakonin fordert Umdenken: "Rollenbilder wie zu Großmutters Zeiten"

Auch eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) belegen: In der Pandemie wird besonders deutlich, dass viele berufstätige Paare eine Rollenverteilung wie zu Zeiten unserer Großeltern leben. Vorwiegend (Teilzeit-)Mütter kochen, putzen und betreuen die Kinder. Rollenklischees und festsitzende Erwartungshaltungen verschärfen sich. Ein Gespräch mit Diakonin Julia Jünemann (57), Referentin für Frauenarbeit im evangelischen Bildungswerk des Kirchenkreises Plön-Segeberg. Frau Jünemann, wie sieht es mit Ihren familiären Pflichten in der Corona-Krise aus? Julia Jünemann: Ich habe drei erwachsene Kinder und ein Enkelkind, die ich natürlich jetzt alle weniger sehen kann. Ansonsten berührt die Corona-Krise mein tägliches Leben der mütterlichen oder haushaltlichen Pflichten nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte meine Kinder noch im Kindergarten- oder im Schulalter zu Hause, ich wüsste nicht, wie ich es schaffen sollte, meine Arbeit mit einer halben Stelle gut zu machen. Die deutschlandweiten Zahlen zeigen, dass (berufstätige) Frauen öfter am Herd stehen als Männer. In der Krise schrauben viele Mütter ihre Arbeitszeiten weiter zurück. Wie ist die Situation im Kirchenkreis Plön-Segeberg? Zunächst einmal, wenn wir über Frauen und Männer sprechen, möchte ich eigentlich über weiblich geprägte Geschlechterrollen und Traditionen reden. Die können auch von Männern gelebt werden, die in Vollzeit Haushalt und Kinder versorgen, während die Frau arbeiten geht. In Gesprächen mit berufstätigen Frauen in unserem Kirchenkreis höre ich allerdings genau das, was ich auch in der Presse lese. Nämlich dass die weiblich geprägten Rollen, also meistens die Frauen, einfach versuchen, alles zu schaffen. Irgendwie. Und dass sie es auch schaffen. Ich habe zum Beispiel von einer Mutter gehört, die ihr Homeoffice nachts erledigt. Warum kommt es zu dieser Retraditionalisierung? Ich glaube nicht, dass sich durch Corona in der Verteilung der Geschlechterrollen etwas verändert hat. Das Problem tritt nur deutlicher zutage. Wir merken jetzt, dass vieles noch wie zu Großmutters Zeiten ist. Das Familienleben kommt zwar in einem moderneren Gewand daher, und es sieht vieles nach Gleichberechtigung aus. Aber tatsächlich sind vorwiegend die Frauen dafür zuständig, dass der Laden läuft. Denn die weibliche Lebenswelt hat sich verändert, die männliche aber nicht. Väter treten deutlich seltener zurück, selbst wenn sie im Homeoffice arbeiten. Halten sie diese Situation für unvermeidbar? Sicher nicht. Die Situation ließe sich verändern, indem Einstellungen sich verändern. Es geht besonders um die Arbeitswelt, wo erwartet wird, dass jemand, der Vollzeit tätig ist, die volle Leistung bringt und es nicht anerkannt wird, wenn die Kinder mit Homeschooling zu Hause sind und ich mich mehr um sie kümmern muss. Diese Form der Anerkennung für Care-Arbeit gibt es in der Arbeitswelt nicht. Der „Präsenz-Fetisch“ mit hohen Arbeitszeiten und wenig Unterbrechungen ist stark männlich geprägt. Wie kommen wir aus dieser Nummer raus? Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Umdenken. Sorgearbeit betrifft eben nicht nur die Teilzeit arbeitende Mutter oder die Hausfrau, sondern auch den in Vollzeit tätigen Vater. Dieses Umdenken muss auf verschiedenen Ebenen passieren: Auf der persönlichen Ebene sollten Frauen in den Familien ermutigt werden, ihre Ansprüche und Bedürfnisse klar zu formulieren und mit ihren Partnern zusammen Wege zu finden, damit die Lasten gleicher verteilt sind. Die zweite Ebene wäre die Öffentlichkeit, also mehr Aufmerksamkeit für das Thema in den Medien. Und der dritte Schritt wäre eine Bewusstseinsänderung in der Arbeitswelt, die sicher auch durch die Politik unterstützt werden könnte. Welche Lösungen könnten das konkret sein? Ich halte eine ganze Menge von einer verkürzten Arbeitszeit für alle. Das bietet auch der männlichen Welt eine Chance, lebenswerter zu leben. Zu diesem Thema gibt es eine sehr drastische 4-in-1-Perspektive von der Soziologin und feministischen Denkerin Frigga Haug, das mich immer wieder fasziniert. Demnach sollte sich das Leben vierteln in Erwerbsarbeit, gesellschaftliche Sorgearbeit, Familie und eigene Kreativität. Ich glaube, dass sich unsere Gesellschaft mit einer 32-Stunden-Woche sehr positiv verändern würde. Ist das Problem der Geschlechterrollen nicht auch eine Frage der kindlichen Prägungen? Wir reagieren in unserer eigenen Lebensgestaltung immer auf das, was wir in der Kindheit vorgelebt bekommen haben. Entweder indem wir das genauso wiederholen oder indem wir es deutlich und dramatisch anders machen. Leider sind auch das kindliche Spiel und die Konsumwelt noch heute stark in den typischen Geschlechterrollen verankert: Es gibt entweder Dinge für Jungen in Blau, und es gibt Dinge für Mädchen in Rosa. Das mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, aber ich finde das beängstigend. Das WZB hat nach einer Online-Umfrage festgestellt, dass die Zufriedenheit der Frauen mit der Familiensituation und ihrer Erwerbsarbeit in der Corona-Pandemie deutlich sinkt. Ist das nicht ein Alarmzeichen für die gesamte Gesellschaft? Natürlich. Aber die Gesellschaft funktioniert weiter, weil die Frauen weiter funktionieren. Wenn Mama die Care-Arbeit jetzt aber satthat. Wie kann sie das Thema ansprechen, ohne eine Ehekrise hervorzurufen? Eine Krise muss nicht Angst machen. Es ist eine Situation, in der deutlich wird, dass sich etwas verändern muss. Sie kann also auch eine Chance sein. Wichtig ist, immer wieder darüber zu sprechen und klar zu sagen: Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine partnerschaftliche Übernahme der Familiensituation, die ja unsere Familiensituation ist. Es sind nicht meine Kinder, es sind unsere Kinder. Es ist nicht mein Homeschooling, es ist unser Homeschooling. Irgendwann werden wir die Corona-Krise überwinden. Wie viel Hoffnung haben Sie für die Geschlechter-Krise? Es braucht ein engagiertes, gesellschaftliches Nachdenken darüber, dass es für alle gut wäre, wenn die traditionellen Rollen stärker aufgebrochen werden. Durch die Corona-Krise habe ich die Hoffnung, dass das Augenmerk auf die dringend benötigte Wertschätzung für typische Frauenberufe im Care-Bereich gewachsen ist und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erfolgt. Gleichzeitig sollte der Appell an alle Arbeitgeber lauten, dass sie auch ihre männlichen Kollegen ansprechen, ob sie mehr Freiraum brauchen, um familiäre Sorgearbeit zu leisten. Lesen Sie auch: Katharina Schwerk aus Plön präsentiert ihre Debüt-CD Dann muss vielleicht mal ein Projekt länger dauern oder eine Sitzung ausfallen, aber das würde unsere Welt nicht zum Stillstand bringen.