Helene Schütt feiert am 1. Januar ihren 100. Geburtstag in Bokel

Als Helene Hempe am 21. August 1948 Heinrich Schütt aus Bokel heiratete, hatte die 27-Jährige schon mehrere Fluchtreisen, zwei Jahre in einem Flüchtlingslager und davor eine Ausbildung zur Blumenbinderin in Breslau, heute Wroclaw, in ihrem Lebensbrevier. In Nortorf verkaufte Helene Schütt seit 1948 auf dem Wochenmarkt selbst gezogenes Gemüse und Sommerblumen vom Gärtnereibetrieb in Bokel, den sie mit Heinrich Schütt führte. „Anfangs holte ein Bauer aus dem Dorf die Ware ab und brachte sie mit dem Wagen zum Markt. Wir fuhren mit dem Rad hinterher.“ Später fuhr Heinrich Schütt die frischen Lebensmittel, in den 70er-Jahren machte Helene Schütt ihren Führerschein und fuhr von da ab selbst. Bis vor zehn Jahren fuhr sie zum Markt, packte am Stand Ware ein oder holte Nachschub. Helene Schütt war auf dem Markt eine Institution: Helene Schütt war auf dem Markt eine Institution. Die Händler feierten ihr 50-jähriges Marktjubiläum mit einer handgebundenen Girlande. „Manche Kunden haben mir ihr Herz ausgeschüttet“, erzählt Helene Schütt mit freundlichen Lächeln und sehr wachem Blick. „Die haben gar nicht gekauft, sie kamen an den Stand, um zu reden. Ich hab zugehört.“ Man kann viel, wenn man muss: „Man kann viel, wenn man muss“, umschreibt Helene Schütt das Arbeitspensum. Per Hand und nur zu Zweit, ohne Personal, arbeiteten Heinrich und Helene in den Gewächshäusern und auf einem Pachtfeld in Bokel. Sie zogen die Pflanzen selbst in Frühbeetkästen, pikierten die Setzlinge einzeln. Die drei Töchter halfen beim Blumen binden, erzählt Tochter Ursula Fricke (65), die jetzt bei Helene Schütt lebt. Sie übernahm den Beruf der Eltern und arbeitete selbst als Floristin. „Bei uns war immer Tag der offenen Tür.“ Kunden klingelten auch morgens früh und sonntags spät, um Kohl oder Sellerie, Eisbegonien und Sommerblumen zu kaufen. Brennende Synagoge: An die Zeit im Dorf beim heutigen Woclaw kann sich Helene Schütt gut erinnern. Die Eltern hatten eine Gärtnerei und ein Haus. Sie lernte wie ihre Schwester drei Jahre den Beruf der Blumenbinderin. „Beim Ausfahren der Blumen mit dem Rad kam ich an der brennenden Synagoge in Breslau vorbei, an den Geschäften mit den eingeschlagenen Fenstern." Wir durften unsere Meinung nicht sagen: „Ich wünsche keinem, dass er so etwas erleben muss. Wir wurden in einer Diktatur groß. Wir durften unsere Meinung nicht sagen.“ Verwandte, die Kritik übten, wurden getötet. „Sechs Jahre Krieg, unsere Jugend war vorbei. Ich hoffe, dass diese Zeiten nie wiederkommen. Eine schlimme Zeit“, sagt die Zeitzeugin. Ihre Mutter hatte als Dienstmädchen bei einer jüdischen Familie gearbeitet. „Das waren gute Leute. Wir brachten immer Geflügel und Gemüse vorbei.“ Dass Juden verfolgt wurden, wusste sie damals. „Dass sie umgebracht wurden, haben wir erst später erfahren.“ Die Flucht führte Helene Schütt 1945 quer durch Deutschland. „Wir waren alle auseinander gekommen.“ Ein Dienstausweis vom Wehrbereichskommando VIII, wo sie ab Januar 1945 als Sekretärin gearbeitet hatte, ermöglichte ihr zunächst eine Fahrt nach Hamburg zur Familie ihres Freundes. Sie folgte jedoch der Verabredung ihrer Familie, sich in jedem Fall in Dresden bei Verwandten zu melden. Sie erfuhr per Brief, dass die Familie in Teplitz-Schönau bei Verwandten war. Die Polen, die in das Gebiet geflüchtet waren, wiesen alle Deutschen aus. „Die Deutschen waren im Krieg nicht gut mit ihnen umgegangen.“ Zu Fuß kehrte die Familie zunächst nach Niederschlesien zurück. Von dort ging es nach der Übernahme des Gebiets durch Russland im Frühjahr 1946 in ein Flüchtlingslager in Northeim bei Uslar. Man verstand sich: Zwei Jahre lebte Helene in Northeim und arbeitete mit ihrer Schwester in einer Gärtnerei. Eine Frau aus dem Lager nahm sie zu einem Besuch nach Bokel in Schleswig-Holstein mit. Dort lernte sie Heinrich Schütt kennen. Sie schmunzelt. „Man verstand sich.“ Ihre Schwiegermutter nähte der schlanken jungen Frau mit dem modernen Kurzhaarschnitt das Brautkleid mit dem hochgeschlossenen Kragen. Fest auf Sommer verschoben: Drei Töchter, fünf Enkel, fünf Urenkel und einen Ururenkel wollte Helene Schütt am 1. Januar groß ausführen. Corona bremste das Fest aus. „Wir werden telefonieren.“ Nachmittags sollten wie jedes Jahr die Nachbarn auf ein Stück Torte vorbeikommen. Jetzt plant die rüstige alte Dame eine Feier im Sommer. Bis dahin bleibt Helene Schütte aktiv – wie ein ganzes Leben lang: „Ich geh mit dem Rollator im Dorf spazieren, oder auf dem Grundstück, das geht weit nach hinten raus.“ Sie liest, schaut Fernsehserien und backt. „Das macht mir Spaß.“