Heimatforscher arbeitet Schicksal jüdischer Familien in Bad Segeberg auf

Seit Jahren opfert Axel Winkler einen Großteil seiner Freizeit der Geschichtsforschung – vor allem das Kapitel der Dritten Reichs hat es dem 65-Jährigen angetan. "Vieles, was in der Kreisstadt während des NS-Regimes geschehen ist, wurde nie aufgearbeitet", sagt Winkler. Für viele Segeberger sei der Nationalsozialismus bis heute ein Tabu-Thema. Der Heimatforscher hat es sich zur Aufgabe gemacht, den "Mantel des Schweigens" ein wenig zu lüften. Die Geschichte Segeberger Juden aufzuarbeiten und ihr Schicksal ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, ist dabei zu so etwas wie einer Herzensangelegenheit des Pädagogen geworden. "Das Mädchen im Koffer": Am Montag hat Winkler sein jüngstes Buch vorgestellt: "Das Mädchen im Koffer" schildert auf 200 Seiten in Wort und Bild das unfassbare Leid, das die Nationalsozialisten jüdischen Segebergern zugefügt haben. "Mit Ausnahme einer Familie sind alle von den Nazis vernichtet worden", berichtet der Hobbyhistoriker. Einige Namen in seiner Aufarbeitung werden aufmerksame Bad Segeberger wiedererkennen. "Es sind Juden, denen bereits mit Stolpersteinen in der Stadt gedacht wird." Der Künstler Gunter Demnig hatte 1992 die Idee zu dem Projekt, mit kleinen in den Boden eingelassenen Gedenktafeln Menschen zu würdigen, die im Dritten Reich verfolgt, vertrieben, deportiert oder ermordet worden sind. Geschichten von elf Familien: Stolz ist Winkler, dass er in seinem neuen Buch die Lebensgeschichten von elf Familien erzählen kann, an die noch kein Stolperstein in Bad Segeberg erinnert. Das soll sich im März 2021 allerdings ändern. Eine Geschichte, die der 65-Jährige recherchiert hat, ist die der Familie Lea und Samuel Kosiner. "Lea wuchs in Bad Segeberg auf, ihre Familie wohnte ursprünglich in der Lübecker Straße", berichtet Winkler. Ihm gelang es in mühevoller Arbeit, den Lebensweg der Segebergerin nachzuzeichnen. Da Leas Vater Rabbiner war, musste die Familie häufiger umziehen. In Leipzig lernte die junge Frau ihren späteren Ehemann Samuel kennen. "1934 wurde ihre Tochter Ruth geboren, doch das kleine Glück war nicht von langer Dauer", erläutert Winkler. Die kleine Ruth blieb unentdeckt: Immer schärfer und erbarmungsloser seien die Nationalsozialisten gegen jüdische Menschen vorgegangen. "Um seine Tochter zu schützen, hat Samuel Kosiner das Mädchen, als es acht Jahre alt war, in einen mit Luftlöchern versehenen Koffer gesperrt, zum Postamt bringen lassen und dort von einer Freundin der Familie abholen lassen", sagt Winkler. Die Bekannte gab das Mädchen als Nichte aus Berlin aus. "Um die Tarnung zu perfektionieren, musste das Mädchen aus dem Koffer sich fortan Edith Friedrich nennen." Tatsächlich ging der Plan auf: Die kleine Ruth blieb unentdeckt. Ihre Eltern aber wurden deportiert, in zwei Vernichtungslager gebracht - "und überlebten. Im Juli 1945 konnten die Eltern ihre Tochter in Berlin wieder in die Arme schließen", erzählt der Bad Segeberger. In die USA ausgewandert: Die Familie wanderte nach Ende des Zweiten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten aus. "Während der Corona-Pandemie stellte ich mir die Frage, ob es möglicherweise Nachkommen gibt, zu denen ich Kontakt aufnehmen könnte", sagt Winkler. Tatsächlich kam es aber viel besser: "Über Umwege bekam ich die angebliche Adresse von Ruth, dem Mädchen aus dem Koffer, die in New York leben sollte." Ende April schrieb er einen Brief und schickte diesen in die USA. "Wochenlang bin ich jeden Morgen nervös zum Briefkasten gegangen, leider immer vergeblich – bis ich plötzliche eine E-Mail von Ruths Sohn bekam, der bestätigte, dass es sich um die Ruth handele", berichtet der Heimatforscher stolz. In den Wochen danach sei der Kontakt immer intensiver geworden. "Heute ist das kleine Mädchen von damals 86 Jahre alt und hat mir alles erzählt, woran sie sich erinnern kann." Axel Winkler hat es niedergeschrieben. Das Buch ist ab sofort in der Buchhandlung "Buch am Markt" in Bad Segeberg erhältlich. Der Autor wünscht sich aber noch mehr Aufmerksamkeit für die Familien seines Buches: "Ich möchte die Menschen des Buches auch in einer Ausstellung präsentieren – im Rahmen einer öffentlichen Ausstellung auf Plakaten", berichtet er. Gesucht werden nun Bad Segeberger Geschäftsleute, die als Paten Platz in ihren Schaufenstern zur Verfügung stellen. Weitere Nachrichten aus dem Kreis Segeberg lesen Sie hier.