Anfang der Neunzigerjahre gilt Aids auch in Frankreich vielen immer noch als Seuche der Schwulen und Fixer. Aufklärung tut Not. Den vom Tod bedrohten HIV-Infizierten rennt die Zeit davon. Die Pariser Act-Up-Aktivisten um ihren Sprecher Thibault (Antoine Reinartz) und die forsche Sophie (Adèle Haenel) wirft der Regierung unter Präsident François Mitterand schwere Versäumnisse im Umgang mit der Epidemie vor und klagt Pharmafirmen an, die Einführung neuer Wirkstoffe aus kapitalistischem Eigeninteresse zu verzögern. Mit spektakulären Aktionen wie Kunstblutattacken auf Politiker und Arzneimittelkonzerne macht die Gruppe auf ihre Anliegen aufmerksam und versucht, öffentlichen Druck aufzubauen.
Ein unglaublich intensiver Film
Regiseur Robin Campillo mischte einst selbst bei Act Up (AIDS Coalition To Unleash Power) mit. Sein unglaublich intensiver Film, der den Zuschauer mit Schwung in die Lage der damals von Aids besonders Betroffenen und Gefährdeten zurückversetzt und in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, speist sich aus eigenen Erfahrungen. Man wird förmlich in die Aktionen und wöchentlichen Meetings der Aktivisten hineinkatapultiert und unmittelbar Zeuge heftig geführter kontroverser Diskussionen.
Die Abkürzung aus dem Titel - „BPM“, Beats per Minute - bezieht sich auf einen Begriff aus der Musik: Das Tempo eines Songs wird so bestimmt. Und in diesem Film ist das Tempo hoch.
Fingerschnippen gilt als Zustimmung
Es muss schnell gehen beim Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Und deshalb gelten feste Regeln bei den Treffen. Fingerschnippen gilt als Zustimmung. Was geht? Was geht nicht? Oder sollte man nicht besser...? Die sich vorwiegend aus Homosexuellen rekrutierende Pariser Act-Up-Sektion präsentiert sich als ziemlich heterogene Truppe.
Doch der Regisseur, der mit Philippe Mangeot auch das Drehbuch schrieb, belässt es nicht beim Quasidokumentarischen. Zwischen zwei der Aktivisten – dem besonders radikalen Sean (Nahuel Pérez Biscayat) und dem Neuling Nathan (Arnaud Valois) – entwickelt sich eine bewegende Liebesgeschichte. Als bei dem infizierten Sean die Krankheit ausbricht, kümmert sich sein nichtinfizierter Freund rührend um ihn und begleitet ihn beim langen Sterben.
Sean ist nicht der Einzige, den es in dieser Geschichte erwischt. Anhand seiner Geschichte wird das immense Leid, das hinter den Aktionen steckte, erfahrbar.
„120 BPM“, Regie: Robin Campillo, 144 Minuten, FSK 16 KINO
Von Jörg Brandes / RND