Aufklärung und Wundertüte

Im Streiber-NDR-Konzert erhält am Sonnabend jeder Einzelton in Ludwig van Beethovens Zweitem Klavierkonzert B-Dur op. 19 durch ihn seine perlende Berechtigung. Kein Pedalnebel verhüllt die Konturen des oft lyrisch empfindsamen, gelegentlich keck humorvollen Solo-Parts. Hier herrscht der Geist der Aufklärung - in jeder Beziehung. Dabei wirkt Biss' Spiel keineswegs unterkühlt oder dünnblütig. Vielmehr werden die Emotionen im klassischen Gewand fein dosiert. Ein schönes Beispiel dafür ist auch die Zugabe: Jonathan Biss spielt Fréderic Chopins e-Moll-Prélude op. 28 zügig und gläsern, gewinnt aber gerade aus der aufgelichteten Schlichtheit anrührende Tiefe. Das NDR Sinfonieorchester lässt sich, nach einer eher pauschal geratenen Lesart von Mozarts "Pariser" Sinfonie D-Dur KV 297, von Biss gern zu sprechendem, am Ende des langsamen Satzes auch sehr sensiblem Beethoven-Spiel inspirieren. Die große Stunde der Hamburger schlägt allerdings erst nach der Pause, denn Alexander Zemlinskys Sinfonische Dichtung Die Seejungfrau ist eine wahre Wundertüte an Klangfarben und -effekten. Besonders bemerkenswert ist, wie es dem viel zu spät wertgeschätzten Lehrer und Schwager Arnold Schönbergs gelang, zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine spätromantische Tonmalerei zu perfektionieren, die völlig eigenständig neben Mahler, Strauss und Debussy bestehen kann. Andersens Märchen findet hier ein Echo, das so reich und sinnlich schillert als wäre es ein Gemälde Gustav Klimts. Mit dem Amerikaner James Conlon steht allerdings im Kieler Schloss auch ein auswendig dirigierender Kenner der flüssigen Materie am Pult. Nicht umsonst entstand 1995 in Köln eine der bedeutendsten CD-Aufnahmen (EMI Classics) des Werks unter seiner Leitung. Entsprechend glücklich und selbstverständlich wirkt das Timing der Interpretation, blüht das zentrale Motiv der kleinen Seejungfrau in allen Sätzen aus den Wogen zart auf, wird gefährdet und schließlich verklärt. Konzertmeister Roland Greutter steuert ein weiß glühendes Violin-Solo bei, die Kollegen Wärme und veredelte Strahlkraft. Starker Beifall und Bravi sind dafür allemal angebracht.

Die NDR-Sinfoniker mit Jonathan Biss und James Conlon im Kieler Schloss - Aufklärung und Wundertüte