Corona: Kieler Sven Zimmermann mit Bildband „Übers Leben“ zum Lockdown

Im Frühjahr, nach 14 Tagen im Lockdown, habe er gemerkt: Stopp, die Entwicklung ist nicht gut. In seiner Rockschule in Russee hätten er und seine Mitarbeiter sich dann gegenseitig interviewt zur Lage – Termine, Einkommen. „Da stellte sich relativ schnell heraus: Oha, das fühlt sich nicht gut an, da passiert etwas, das haben wir nicht im Griff“, erinnert sich Zimmermann. Corona: Existenzangst und Perspektivlosigkeit: Die spürbare Existenzangst und Perspektivlosigkeit spornten ihn an loszufahren und die Menschen für eine Art Dokumentation zu befragen – in dieser einmaligen Situation ohne „Blumen und Applaus“, wie es im Untertitel heißt. „Ich wollte das gerne einfangen. Für die Zukunft. Als Zeitzeugnis. Es war natürlich auch ein bisschen kreativer Zorn.“ Bildband: Fokus Schleswig-Holstein: Also konsultierte Zimmermann zunächst sein Telefonbuch. „Eigentlich wollte ich erst mal nur in Kiel bleiben, in der Kieler Szene.“ Doch dann habe jeder einen gekannt, dem es noch schlechter ging. Also fing Zimmermann oben in Flensburg an mit seinem mobilen Fotostudio und arbeitete sich bis runter ins Herzogtum Lauenburg – und bekam immer mehr Tipps, wen im Lande er dringend noch befragen sollte. Björn Engholm bat er um das Vorwort, weil dieser als „Elder Statesman über den Dingen“ stehe. Smalltalk und frühe Fotos: Ein Tränensymbol an einem Zeitstrang unter den Fotos markiert, wann etwa in welchem Monat Zimmermann seine Modelle für die Schwarz-Weiß-Fotos getroffen hat – „aber es waren nicht alle Begegnungen traurig“. Die Fotos entstanden im Gespräch, beide auf einem gepolsterten Cajón sitzend, ein Pott Kaffee in Griffnähe und die Kamera im Anschlag. Nach anfänglichem, 20-minütigem Smalltalk habe er sein Gegenüber gebeten, dessen Gefühl bei der Nachricht vom Lockdown am 13. März zu beschreiben. „Da musste ich halt schnell sein, weil die Gesichter meistens entgleisten oder sich die Stirn in Falten zog. Ich habe eine Fotografier-Methode, die fast einer Darmspiegelung gleicht“, beschreibt es Zimmermann. „Wir reden und wenn wir fertig sind, hast du gar nichts gemerkt.“ Prägnante Zitate zur Situation unter Corona: Während der Foto-Sessions machte sich Zimmermann Gesprächsnotizen, schlug am Schluss ein prägnantes Zitat vor, dass er dann neben jenes Foto stellte, das für ihn dazu passte – von allen dann auch so freigegeben. So sagt zum Beispiel der Kieler Musiker Tom Baetzel: „Das System ist nicht kulturrelevant“ und der in Ahrensburg lebende Sänger der Hamburger Rockband Selig, Jan Plewka, stellt nüchtern fest: „Ohne Künstler keine Kunst. Ohne Kunst keine Kultur. Ohne Kultur keine Gesellschaft.“ Sven Zimmermann: Bestandsaufnahme mit 50 Personen: Bei 50 Personen machte Zimmermann Schluss. Aber er will einen zweiten Bildband machen. Auch der soll „Übers Leben“ heißen, allerdings mit dem Untertitel „Woher der Wind nun weht“ und eine Bestandsaufnahme über „die neue Normalität“ in Schleswig-Holstein liefern. „Dann werden alle Protagonisten noch mal auftauchen, sofern sie wollen, und erzählen, was geblieben ist – aber auch viele neue, denen ich auch noch Gehör verschaffen will.“ Ab April, Mai stehe er in den Startlöchern, falls sich eine Art neuer Normalität abzeichne. Auch in den gerade wieder leeren Kulturlocations und vollen Lagern der Veranstaltungstechniker, die Zimmermann im ersten Bildband ergänzend auf Doppelseiten abgebildet hat. Gefragte Perspektiven: Bildband "Übers Leben": Momentan gebe es bei Bestellungen Lieferzeiten von zwei Wochen für den Bildband, die erste Auflage werde wohl dieser Tage verkauft sein, vielleicht gebe es eine zweite. Mit diesem Erfolg habe er überhaupt nicht gerechnet, sagt Zimmermann. Die Intention sei ja eine ganz andere gewesen – nicht ihn in den Vordergrund zu stellen, sondern „die Menschen im Land“. Manchmal seien es eben Zufälle: Gerade als die Szene sich wieder berappelt habe und genau an dem Tag, als mit dem zweiten Lockdown „alles wieder zusammenbrach“, sei sein Buch herausgekommen. „Vielleicht auch daher der Erfolg. Weil dieses Buch zu genau dem Zeitpunkt aus der Seele spricht.“ Charlie Chaplin hilft weiter: Ein Zitat von Charlie Chaplin hat Zimmermann an den Anfang gestellt: „Wir brauchen uns nicht vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen zu fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten. Das ist das Leben!“ Sei explizit als positiver Ansatz gemeint, sagt Zimmermann. Man hätte auch platt schreiben können: In jeder Krise liegt auch eine Chance. Aber das wolle man nicht hören in solchen Augenblicken, glaubt Sven Zimmermann. „Dann muss man schon reifere Menschen bemühen als mich, und Charlie Chaplin hat es da total auf den Punkt gebracht. Das man solche Extreme auch mal nutzt, um Sachen zu ändern.“