In der Barockmusik stehen zwar noch nicht so viele klammernde Legato-Bögen explizit in den Noten. Wer sie aber mit Stilgefühl hinzuerfindet, um musikalische und textinhaltliche Phrasen zu bündeln, wird reich ernten.
Friederike Woebcken und der Gleichklang der Vokale
Die Dirigentin Friederike Woebcken hat mit ihren 30 weitgehend homogenen Chorstimmen offenbar nicht nur am selig machenden Gleichklang der Vokale, an der dezenten Einbettung der Konsonanten und an der Wärme des Klangs gefeilt, sie spannt auch Sinnbrücken von erstaunlicher Tragfähigkeit. Nur so ist zu erklären, warum Johann Herrmann Scheins Trauermotette "Da Jacob vollendet hatte" derart ausdrucksstark wirkt, das Sterben, Auferstehen, Weinen und Küssen derart plastisch vor Ohren steht und unter die Haut geht.
Bachs Vorbilder: Schein und Schütz
Hier, in der sprachmächtigen mitteldeutschen Barocktradition um Heinrich Schütz, wurzelt das dann alle überragende Können Johann Sebastian Bachs. In seiner kurzatmigen frühen Kantate BWV 150 "Nach Dir, Herr verlanget mich" sind die Vorbilder noch ganz präsent.
Sensible Spezialisten: Ensemble Schirokko Hamburg
In der etwas unter Wert besuchten Nikolaikirche begeisterten die Sänger in enger Verzahnung mit den hoch sensiblen und virtuosen Spezialisten vom wunderbar erdig im Basso continuo grundierten Ensemble Schirokko Hamburg mit einem enorm stimmigen Programm.
Leipziger Choralkantate BWV 92
Was daraus musikgeschichtlich möglich wurde, bewies der Leipziger Thomaskantor Bach in seiner Kantate BWV 92 "Ich hab in Gottes Herz und Sinn": ein maximal kunstvoll und ehrfürchtig immer neu eingewobener Paul-Gerhardt-Choral – und hinreißend zupackende „Sakraltheater“-Musik. Hier werden die glücklich besetzten Solisten, die kurzfristig eingesprungene Altistin Geneviève Tschumi, der glasklar „von Gottes Arm“ stabilisierte Tenor von Florian Sievers und der balsamisch brausende Bass von Konstantin Heintel noch einmal voll aus jeder Reserve gelockt.
Höhepunkt: Soli der Sopranistin Magdalene Harer
Den allerschönsten Beitrag aber leistete mit Magdalene Harer eine Neukielerin, die gerade an der Seite des zukünftigen Generalmusikdirektors Benjamin Reiners an die Förde gezogen ist. Aus der für einen Alte-Musik-Sopran außergewöhnlich farbintensiven und resonanzreichen Mittellage heraus züngeln bei ihr ganz schwerelos die Höhen auf wie feurige Menetekel. Ein vielgefeiertes Erlebnis bei Schütz und bei Bach.
Von Christian Strehk