Interview mit Cameron Carpenter: Die großartigste Orgel der Welt

Herr Carpenter, wenn es um Sie geht, sind die Superlative nicht weit. In dem Video-Trailer zu Ihrem neuen Album beschreibt Sie der amerikanische Orgelbauer David Oglettree als die vielleicht einzige Person auf der Welt, die die Orgel verändern kann. Stimmen Sie zu? Auch wenn es verlockend wäre, würde ich dem prinzipiell nicht zustimmen. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass ich nicht die Person bin, die die Orgel verändern kann. Aber es würde von einem unzureichenden Geschichtsverständnis zeugen, wenn ich behaupten würde, dass nur ein Einziger dieses Potenzial besitzt. Bei großen Entwicklungen verhält es sich vielmehr oft so, dass plötzlich verschiedene Menschen auf der Welt in Lage sind, etwas zu tun, was vorher unmöglich erschien. Es würde mich deshalb nicht wundern, wenn in ein paar Jahren beispielsweise ein chinesischer Organist ebenfalls auf die Idee käme, auf einer digitalen Orgel das nächste Kapitel der Geschichte dieses Instruments aufzuschlagen. Sie selbst schlagen dieses Kapitel nun mit Ihrer „International Touring Organ“ auf, einer gewaltigen digitalen Orgel, die vollständig nach Ihren Vorstellungen entwickelt wurde und Sie fortan auf Ihren Tourneen begleiten wird. Damit sind Sie der vielleicht weltweit der einzige Organist, der immer sein eigenes Instrument spielen kann. Tatsächlich befreit mich die „Touring Organ“ von dem Problem, dass jede Orgel auf der Welt anders klingt und gespielt werden muss. Aber das ist nicht der Hauptgrund, aus dem ich sie habe bauen lassen. Der Grund hiefür lag darin, dass die „Touring Organ“ für mich die größte künstlerische Errungenschaft darstellt, die im Orgelbau derzeit vorstellbar ist. Mir geht es nicht primär darum, eine Orgel zu besitzen, die mich überallhin begleiten kann. Mir geht es darum, die großartigste Orgel der Welt zu spielen. Ein solches XXL-Instrument muss zwangsläufig polarisieren. Ihre Fans werden in Ihrer „Touring Organ“ ebenfalls die beste Orgel der Welt entdecken. Puristen könnten einwenden, dass sie noch nicht einmal eine Orgel, sondern genau genommen ein Synthesizer ist. Richtig, das tun sie auch schon. Die sogenannten Puristen verfolgen aus meiner Sicht eine ziemlich unheimliche und kranke Idee, die sich mit der des Faschismus deckt: die Idee einer „Purification“, einer Reinigung – in diesem Fall einer künstlerischen. Deshalb müsste ich mich gegen den Vorwurf, meine „Touring Organ“ sei keine Orgel, eigentlich gar nicht erst verteidigen. Andererseits ist die Verteidigung sehr einfach. Denn was ist eine Orgel? Eine Orgel ist ein Instrument, das Schallwellen verarbeitet und für einen Tastenspieler nutzbar macht. Aus diesem Grund ist eine Barockorgel ebenso eine Orgel wie eine Hammond-Orgel. Die Definition des Begriffs hängt nicht essentiell von der Art ab, auf welche Weise das Instrument seinen Klang produziert. Zu sagen, dass eine Orgel keine Orgel ist, weil sie Lautsprecher statt Pfeifen hat, zeigt für mich, dass es jemandem um sklavische Definitionen und nicht um musikalische Qualitäten geht. Aus dieser Perspektive könnte man genauso behaupten, dass die Deutsche Bahn heute keine Züge hat, weil diese ja nicht mehr mit Dampfmaschinen angetrieben werden. So wie Ihr Instrument einen neuen Typus Orgel verkörpert, scheinen auch Sie einen neuen Typen des Organisten verkörpern zu wollen. Ich versuche nicht nur zu zeigen, was eine Orgel sein kann, sondern auch, was ein Organist sein kann. Und ein Organist kann beispielsweise eine Person sein, die man auch außerhalb einer Kirche erleben kann, die über ihre Sexualität spricht und auch noch Spaß an Mode hat. Ich denke, dass so jemand meinem Berufstand einen großen Dienst erweist und außerdem junge Menschen – junge Frauen inbegriffen – für sein Instrument begeistern kann. Dazu passt, dass Ihre „Touring Organ“ Sie zugleich sichtbarer für Ihr Publikum macht. Auf jeden Fall. Für mich stellt Musik immer auch eine visuelle Kunst dar. Es macht Spaß, einen Dirigenten oder einen Trompeter zu beobachten. Außerdem hilft es dem Hörer, zu verstehen, wie die Musik entsteht. In meinem Fall ist dieser Aspekt noch viel wichtiger, denn es hier musiziert eine Person mit ihrem ganzen Körper. Es ist übrigens kein Zufall, dass man den Spieler der großen Kirchenorgeln der Welt niemals sehen konnte und kann. Schließlich soll der Zuhörer ja den Eindruck bekommen, auch in der Orgel die Stimme Gottes zu hören. Und es wäre natürlich viel leichter, daran zu zweifeln, wenn man sehen würde, dass es nur ein Mensch ist, der dieses Instrument spielt. Aus dem gleichen Grund ist auch das sakrale Orgeldesign darauf angelegt, eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Deshalb wurde die „Touring Organ“ von all diesen Aspekten befreit. Cameron Carpenter spielt am Dienstag, 22. Juli, um 20 Uhr im Kieler Schloss. Karten: 0431 / 23 70 70. Internet: www.shmf.de

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