Liederlicher Reigen rund um die Zapfsäule

Pauli-Theater will. Dort findet man derzeit auf der Bühne die Tanke wieder: Zapfsäule, Durchgang zum Shop, Einfahrt zur Waschstraße und oben auf dem Flachdach nistet eine stilsichere Band. Franz Wittenbrink hat sich den naheliegenden Ort von Raimund Bauer als Schauplatz für seinen Liederabend nachbauen lassen: Nacht-Tankstelle heißt der neue musik-theatralische Wurf, er zielt, weil 's jahreszeitlich passt, auf Weihnachten.Franz Wittenbrink ist der Tausendsassa unter den Theatermusikern seit er mit Sekretärinnen und Männer vorgeführt hat, wie man den theatralischen Stoff unmittelbar aus dem musikalischen Material, genauer noch: aus Liedtexten, zapft. Figuren lassen sich so gewinnen und kleine Geschichten, die sich an einen dünnen roten Faden spannen. Diesmal kegelt Wittenbrink Gestalten auf die Szenerie, wie sie sich der bessere Hamburger außerhalb seiner guten Stube denkt. Alle haben es irgendwie verpasst, den Heiligen Abend im bürgerlich Geborgenen zu verbringen: Der Seemann (Peter Franke), weint seiner "Mary Ann" nach, die sowieso nur ein ödes Containerschiff war. Die Punkerin (Victoria Fleer) verweigert sich mit Amy Winehouse jedem geordneten Leben. Der Hip-Hop-Styler (Tim Reingruber) bewaffnet sich mit Deichkind-Titeln für Krawall und Remmidemmi. Der Philosophieprofessor (George Meyer-Goll) fühlt sich von seiner Frau geschasst und mixt den Faust-Monolog mit Johann-Strauß.Dann sucht dort mit ihrem Gehwagen eine Dame aus dem Altersheim (Marion Martienzen) Zuflucht, weil sie im Krippenspiel nicht den Hirten, sondern viel besser die Maria spielen könnte, was sie fabelhaft singend mit Proud Mary beweist und dabei eine glühende Tina-Turner-Parodie abliefert. Der Weihnachtsmann verirrt sich und ein Eisbär träumt von White Chrismas (beide: Erik Schäffler); eine Altenpflegerin, eine Investmentbankerin, eine Gewerbliche, eine Aushilfe (allesamt: Anne Weber) geistern singend herum. Ja, der Gesang ist ihnen allesamt gegeben, verblüffend virtuos auch in schwierigeren Lagen und mehrstimmigen Sätzen.So ganz überraschend und konsequent auf links gedreht wie in seinen frühen Produktionen sind Franz Wittenbrinks Arrangements und szenischen Zuordnungen nicht mehr. Eher plausibel künden Melodien und Texte von inneren Stimmungen und äußeren Befindlichkeiten. Doch auch daraus ergeben sich schöne Momente, wie jener, in dem Anne Weber als Bankerin Autumn Leaves nachtrauert, oder wenn das Ensemble zynisch-spöttisch das Krippenspiel nachstellt. Und endlich wird bei Bachs Jauchzet-Frohlocket-Chor kaum noch Trübsal geblasen, sondern musikalisch fabelhaft begleitet der Lust auf Lustig gehuldigt. Darum nach knapp zwei Stunden heller Jubel im St. Pauli-Theater.

Franz Wittenbrinks neuester Streich: "Nacht-Tankstelle im St. Pauli-Theater - Liederlicher Reigen rund um die Zapfsäule