Lübecks GMD Stefan Vladar zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven

Aber Stefan Vladar ist nicht nur als Dirigent und langjähriger Leiter des Wiener Kammerorchesters mit den Symphonien vertraut, er ist ja auch renommierter Pianist. Nicht erst nach dem Gewinn des Wiener Beethoven-Wettbewerbs im Jahr 1985 hat er etliche Sonaten des Wiener Klassikers aus Bonn gespielt und wurde als Solist in dessen Klavierkonzerten gefeiert und mehrfach auf CD verewigt. Er war in Sachen Beethoven auch Kammermusik-Partner von Musikergrößen wie Heinrich Schiff. Herr Vladar, bei Stippvisiten in Ihren Aufnahmen auf CD, etwa beim wunderbar lebendig aufgefassten, von Ihnen vom Klavier aus dirigierten Tripelkonzert mit Isabelle van Keulen, Julian Steckel und dem Wiener Kammerorchester, fällt ins Ohr, dass Sie Beethoven stets auffällig aufmüpfig interpretieren. Ist der vorwitzig freche revolutionäre Impetus für Sie der entscheidende Schlüssel zu seinem Schaffen? Stefan Vladar: Frech würde ich wohl nicht unterschreiben, weiß aber, was Sie meinen. Ich würde es eher als hartgezeichnet ruppig im Gegensatz zu weichgezeichnet charakterisieren. Beethovens Musik lebt ja von zwei Komponenten. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar und ohne die andere wäre er nur mit der einen nicht das geworden, was er ist. Seine Themenerfindungen sind simpel bis banal. Die berühmtesten Motive sind an Einfachheit nicht zu unterbieten. Aber durch seine Dynamisierung, das Gegen-den-Strich-Bürsten und die Nichterfüllung jeglicher Erwartungshaltung erwächst daraus eine exzeptionelle Qualität. Er lässt ein Crescendo anschwellen und nimmt die Dynamik im subito piano plötzlich zurück. Dem Hund wird sozusagen das Leckerli vors Maul gehalten, aber immer wieder weggezogen. Das funktioniert aber nur, wenn man seine dynamischen Angaben auch wirklich ausreizt. Sie haben Beethovens Werke schon aus ganz unterschiedlichen Perspektiven interpretiert –solistisch am Klavier, als Kammermusiker, als Solist in den Klavierkonzerten und als Dirigent. Gibt es da spürbare Unterschiede je nach Gattung? Beethoven ist einer der wenigen Komponisten, die sich extrem selten wiederholen. Wenn Sie die Klaviersonaten oder die Symphonien ansehen, werden Sie ganz wenig Ähnlichkeiten feststellen. Also im Gegensatz beispielsweise zu Bruckner. Und wenn das mal vorkommt – wie bei den zur gleichen Zeit entstandenen dritten Sätzen des Fünften Klavierkonzerts und der Klaviersonate „Les Adieux“ – ist das eher als bewusstes Zitat aufzufassen. Dadurch ist jedes Werk, egal für welche Gattung es geschrieben wurde, singulär bei Beethoven. Und natürlich gibt es spürbar die Stilperioden bei ihm, den „frühen“, den „mittleren“ und den „späten“ Beethoven, jeweils mit Übergangsphasen. Aber für mich gibt es zwischen der Kammermusik, den Klavierwerken und dem sinfonischen Schaffen keinen bemerkbaren Unterschied. Auch wenn ich am Klavier eine Reihe von Sforzato-Akzenten anders behandeln muss als ein Orchester. Aber das Bohrende, das mit dem Kopf-gegen-die-Wand bleibt das Gleiche – beispielsweise im durchführenden Mittelteil des ersten Satzes von der Achten Symphonie, wo das Und-noch-einmal-und-noch-Einmal solange fortgesetzt wird, bis die Wunde an der Stirn nicht mehr auszuhalten ist. Sie sind selber Wiener. Ist der Bonner Beethoven in Wien zum Wiener geworden – und hört man das? Die Frage ist berechtigt. Aber man müsste für eine Antwort wohl definieren können, wofür Wien steht. Wir denken da ja zunächst an das leicht süßliche Klischee-Wien. Aber das Wien, das Vivaldi erlebt hat, ist ein anderes als das Metternich-Wien und noch ein anderes als das des späten Kaiser Franz Joseph. Ich glaube aber, dass die Musikstadt als Schmelztiegel verschiedener kultureller Einflüsse und als Ort epochaler Umbrüche bedeutsam ist. Und das es dort in besonderer Weise Epochenübergänge unterschiedlicher Art und Intensität gegeben hat. So ist der von Haydn zu Beethoven jedoch tatsächlich als stärker einzuschätzen als der von Mozart zu Schubert. Manche hören ja den „mittleren“ Beethoven des frühen 19. Jahrhunderts auch schon als Wegbereiter der Frühromantik ... Ich nehme diesen Effekt aber weit weniger musikalisch als inhaltlich wahr. Kompositionstechnisch und stilistisch greift er nicht so in die Romantik hinüber wie das Mozart an vielen Stellen tut. Bei Beethoven ist vieles in seiner Kontrapunktik eher dem barocken Gestus zuzuordnen. Gerade auch, wo er innig wird, ist das eher schnörkellos simpel. Und im Spätwerk gibt es viele Fugen und Rezitative als Anklänge der Barocktradition. Aber inhaltlich, das ist sicher richtig, wird aus dem Geist der Aufklärung heraus bei ihm alles subjektiv, weg vom höfisch Distanzierten, hin zum emotional betroffenen Ich. Als Professor in Wien und in der Praxis fordern Sie gerade vom Beethoven-Interpreten stilistische Kenntnisse im Sinne einer historisch informierten Aufführungspraxis. Geht da nach der intensiven Welle inzwischen schon wieder etwas verloren von den gewonnenen Erkenntnissen? Meine Kritik geht viel stärker an den Musikmarkt als an die Lehrenden und ihre Studenten. Leider ist es so, dass Originalklang-Kenntnisse der Karriere eher im Weg stehen. Und man wünscht sich ja auch als Lehrer den Erfolg seiner Schüler bei Wettbewerben, müsste sich den Stilunreinheiten und dem, was gerade „in“ ist, aber eigentlich konsequenter widersetzen. Ich würde mir wünschen, auch nur annähernd so Klavierspielen zu können wie Lang Lang oder Yuja Wang. Ich bewundere beide wirklich sehr. Aber sie sind auch die Speerspitzen von jungen Pianisten, die manuell alles können, es aber auch stets zeigen wollen. Früher ist man mehr davon ausgegangen, dass das technische Rüstzeug dafür da ist, eine werkdienliche Aussage zu erzielen. Apropos werkdienlich: Wie stehen Sie dem ewigen Streit um die auffallend raschen Metronom-Angaben bei Beethoven gegenüber? Ich kenne nahezu alle verschwörungstheoretischen Ansätze ... und halte sie überwiegend für Blödsinn. Warum sollte sein Metronom denn kaputt gewesen sein? Er hätte sich doch vom Erfinder Mälzel gleich ein neues besorgen können. Es ist viel einfacher: Beethoven hat seine Werke metronomisiert, als er sie nicht mehr hören konnte. Er hat ihnen innere Tempi zugemessen. Und da bin ich bei dem für mich so wichtigen Celibidache: Ein Tempo kann nicht ohne Berücksichtigung der jeweiligen Vielfalt der Klangeindrücke definiert werden. Ich kann somit auch ein Tempo einer Symphonie nicht am Klavier festlegen. Ich muss hören wie es konkret klingt. Aber da die Fülle von Klangeindrücken in Gedanken leicht herzustellen ist, in der Realität aber nicht, sind viele der Tempi bei der realen Umsetzung zu schnell. Aber: Sie sind Hinweise darauf, dass Beethoven Extreme wollte. Das heißt auch Ihre Tendenz geht zu dramatisch aufgewühlten Tempi? Ich verstehe aber die Inkonsequenz in der Anwendung nicht. Kaum jemand folgt der schnellen Tempoangabe im langsamen Satz der Neunten Symphonie. Das ist richtig flott, besonders wenn später die Figurationen in den Geigen kommen. Gardiner hat es gemacht. Und man ist anfangs überrascht, weil man es anders gewöhnt ist. Aber wenn man sich da einwiegt und die Geigen-Girlanden nicht mehr so wichtig sind, sondern nur noch eine Umspielung, evoziert das eine andere Form der Ruhe. Die Metronom-Bezeichnungen sind Hinweise auf Extreme und sie sind sowieso, das schreibt auch der Beethoven-Schüler Carl Czerny, innerhalb des Satzes zu modifizieren. Und der Komponist selber hat auf den Anwurf, etwas sei zu schnell metronomisiert, einmal geantwortet: Das gelte selbstverständlich nur für das Eröffnungsmotiv. Er hat also Tempomodifikationen während eines Satzes mitgedacht. Können Sie für sich Lieblingswerke von Beethoven benennen? Das sind ja meistens die, mit denen man sich näher beschäftigt. Oft reicht bei ihm schon eine einzige Wendung darin, Faszination für das ganze Stück auszulösen. Und es scheint leichter zu sagen, welche man nicht so mag. Aber auch da wird es problematisch. Ich habe zum Beispiel die Diabelli-Variationen überhaupt nicht gemocht, noch nicht mal, als mich mit Achtzehn mein Lehrer dazu gezwungen hat, sie zu lernen. Mittlerweile aber halte ich sie für das größte Kompendium Beethovenscher Meisterschaft überhaupt!