Lyrik im Literaturhaus: Schildkröten sind schnell

Irgendwann formt sich daraus tatsächlich eine Art Gespräch. Wenn Heinrich Detering die Kindergedichte Arne Rautenbergs aufgreift und flugs mit dem eigenen Spukhafte Nacht nachlegt. Witzig gereimt und dunkel grundiert den nächtlichen Grusel im Kinderzimmer aufs Korn nehmend. Oder wenn Arne Rautenberg im Märchen vom nie irren von den vier Evangelisten über die Beatles bei Elvis Presley landet, und Detering später mit Landregen in Tennessee das Leiden und Sterben der Pop-Ikone zur Metapher verdichtet und in eine Meditation über amerikanische Legenden flicht. Erwartungsvoll gestimmtes Publikum: Zum vierten Mal sitzen der Literaturwissenschaftler und der Wortkünstler in der Reihe „Lyrik im Gespräch“ gemeinsam auf dem Podium im nahezu ausverkauften Literaturhaus, vor dem erwartungsvoll gestimmten Publikum, das dem ehemaligen (Detering) und dem eingeschworenen Kieler (Rautenberg) ganz offensichtlich die Treue hält. „Sie passen gut zueinander“, sagt Literaturhausleiter Wolfgang Sandfuchs einfach. Und tatsächlich fügen sie sich, die Beobachtungen aus Natur und Alltag, die Arne Rautenberg im gerade erschienenen Band Permafros t in knapp pointierte Bilder, zauberspruchhafte Beschwörungen und stille Überlegungen zu Tod und Sein fasst, und Deterings mäandernde Reflexionen, die in Untertauchen ihre Fäden kreuz und quer durch die Geschichte spinnt. Wahre Lügengeschichten: Er taucht gern ins Historische, in die Texte und Gedanken der literarischen Ahnen, bekennt Heinrich Detering. Dort findet er dann „wahre Lügengeschichten“ wie die vom Untertaucher Ransonnet, der 1864 in einer Taucherglocke den Meeresgrund erforschte, sich quasi von der Welt verabschiedete – während auf den Düppeler Schanzen die Schlacht tobte und in Nordamerika der Bürgerkrieg. In solchen gleichzeitigen Ungleichheiten wird das Unfassbare der Welt sichtbar. Auch im Rhein unter der Hohenzollernbrücke („Unten strömen die Mythen“) oder in den Tagebüchern von Alexander Selkirk, Vorbild für Daniel Defoes Schiffbrüchigen Robinson, der bei Detering vom Machthaber zum Bestandteil des Insel-Kosmos wird. Rautenberg kann das auch, von der Ungeduld des Moses erzählen und mitten in der Gegenwart von Niedrigzinsen und Flachbildschirmen landen – ohne die erwünschte Offenbarung. Und bei beiden spürt man die Lust am Spiel mit den Worten, an der Überraschung der Assoziation. Naturgedichte sind politisch: Und mit der Natur haben sie es irgendwie auch – wenn Detering mit Paula eine Kurzcharakteristik der Schildkröte liefert und das Flüchtige, Unsichere der Wahrnehmung: „Schildkröten sind schnell wenn man nicht hinsieht ...“ Oder wenn Rautenberg „auf Höhe der Schneeglöckchen“ das Warten „zwischen winter und frühling“ dingfest macht oder im Himmel über Blavand eine Kindheitsszene am Nordseestrand von Jütland. Der taucht dann wiederum in Deterings Handreichung für Jütlandreisende auf – melancholisch überhöhte Reminiszenz an Daniel Kehlmann. Den Eckernförder Naturdichter Wilhelm Lehmann (1882-1968) verehren sie beide. „Naturgedichte sind immer politisch“, postuliert Detering, „Natur ist ja nie dieses bergende Idyll.“ So spiegeln sich die Stimmen gegenseitig, schärfen und konturieren sich. „Man ist schreibend immer in Zwiesprache“, sagt Heinrich Detering, und Arne Rautenberg ergänzt: „Schreiben ist Lesen. Dabei kommen Gedanken und denen gehe ich dann nach ...“

Lyrik im Literaturhaus - Schildkröten sind schnell