Nordische Filmtage: Thomas Hailer übernimmt 2021

Herr Hailer, Sie haben jetzt als designierter neuer Chef eine knappe Woche lang Filmtage online erlebt – wie ist Ihr Eindruck? Wir haben etwas über 10.000 Ticketverkäufe erreicht. Dabei sitzen ja oft zwei, drei Zuschauer auf einem Ticket vor dem Monitor. Das finde ich sehr beachtlich. Ist das Streaming ein Ersatz fürs Kino? Nach den heutigen Zahlen hatten wir 15.620 Streamabrufe. Wenn man von mehreren Personen ausgeht, die gemeinsam oder als Familie sichten, haben sich sehr viele Personen Filme aus dem Filmtage-Programm angesehen. Außerdem waren Jurys im Diskurs, sind Preise überreicht worden. Niemand hätte etwas davon, wenn man sagt: Streaming ist nicht das, was sich unsere Gründer mal vorgestellt haben. Dann säße etwa die Filmemacherin Dace Puce jetzt ohne den NDR Filmpreis und ohne 12.500 Euro in Lettland. Ich denke, Festivals haben auch Aufgaben – und die sind hier unter den eingeschränkten Bedingungen mit großer Vorbildlichkeit gelöst worden. Was fehlt, ist die Begegnung … Natürlich ist das Virtuelle kein Ersatz dafür, dass wir uns im Kino treffen, in der Schlange stehen und aufgeregt miteinander diskutieren. Aber das kommt dann nächstes oder übernächstes Jahr in dieser Form wieder. Und: Wir haben mit dem neuen Format schon mal gute Erfahrungen gemacht und wissen, wo man in so einer Situation anknüpfen kann. Und das ein oder andere Format, das als Notlösung entstanden ist, will man danach ja vielleicht auch weiterverfolgen. Sie kennen das Festival als Zuschauer schon sehr lang – was hat Sie daran gereizt? Ich war tatsächlich schon bei den Filmtagen, da war Linde Fröhlich noch nicht Direktorin und Hauke Lange-Fuchs noch Leiter des Kinderfilmprogramms. Schon damals habe ich die Konzentration durch die Beschränkung auf eine bestimmte Region geliebt. Das ist faszinierend, und es verhindert jeglichen Kramladen. Im Norden gibt es ein paar Länder, die alle sehr anspruchsvolle, dabei sehr diverse Filmindustrien haben. Jedes dieser Länder hat Genies, die in die Filmgeschichte eingegangen sind. Der dänische Stummfilmpionier Theodor Dreyer, Ingmar Bergman, Lars von Trier - in jeder Phase der Filmgeschichte kam von da oben jemand, der seinen Platz im Kanon hat. Jetzt übernehmen Sie von Linde Fröhlich die Künstlerische Leitung der Filmtage. Was hat Sie nach vielen Jahren bei der weit größeren Berlinale gereizt, in Lübeck einzusteigen? Das ist ein Festival, das sich die Bürger von Lübeck einmal selbst ausgedacht haben. Deshalb ist das Publikum ja auch bis heute so präsent. Außerdem finde ich den konzentrierten Blick der Nordischen Filmtage auf das regionale Angebot eines Jahres reizvoll. Daraus ein Best of zu generieren ist eine tolle Aufgabe. Was mögen Sie am Nordischen Kino? Die Diversität. Es gibt die Exzentriker und die Melancholiker; Lars von Trier und Aki Kaurismäki könnten unterschiedlicher nicht sein. Und trotzdem eint sie mit den Filmemachern aus der Region mit den vielen dunklen Nächten, dass es – egal, ob Komödie oder Drama – immer ums große Ganze geht. Diese Lakonie und dieser Existenzialismus faszinieren mich. Der Preisträger vom letzten Jahr „Weißer weißer Tag“ aus Island ist dafür ein Beispiel. Da sitzt ein Mann vor dem Bildschirm in seiner Zoom-Therapiestunde – und es nervt ihn total. Das Bild ist mir geblieben; und als ich selbst im ersten Lockdown saß, wurde mir klar: Künstler sind eben auch Seismografen, kreieren die beunruhigenden Bilder, bevor sie in den Nachrichten auftauchen. Mit dem Kinderfilm haben Sie als langjähriger Leiter Berlinale-Sektion Generation eine lange Geschichte. Warum ist Ihnen die Sparte so wichtig? Erstmal, weil Kinder ein tolles Publikum sind. Bei keiner Zuschauergruppe ist das Gefühl des Beteiligtseins und des unmittelbaren Erlebens stärker. Außerdem sollten gerade Kinder das bestmögliche Kino zu sehen bekommen. Die müssen ja – in Zeiten, wo es kräftig Konkurrenz gibt – für die Leinwände gewonnen werden. Die kleine Abspielmöglichkeit hat heutzutage jeder in der Tasche – deswegen ist es wichtig, dass Kinder Kino als aufregenden, sogar unersetzlichen, Ort erleben, wo sie ungesehene und unerhörte Dinge finden. Ich meine das nicht in Konkurrenz zum Digitalen – aber jede Filmwirtschaft muss sich um ihren eigenen Nachwuchs kümmern. Und gerade jetzt sind Produktionsfirmen aufgerufen, sich um Filme für ein junges Publikum zu kümmern. Da geht es auch um das Überleben einer Branche. Sie machen sich in der derzeitigen Situation der Pandemie Sorgen um das Kino. Wie können Festivals da gegensteuern? Zum Beispiel, indem man darauf hinwirkt, dass unter der Flagge des Festivals in Lübeck auch übers Jahr Filme geguckt werden. Dass man, wenn die Kinos wieder öffnen, mit den Preisträgern und anderen Filmtage_Filmen Lust macht auf das Medium. Uns Festivalmachern geht es um eine cineastische Grundversorgung. Es geht darum, dass es in jeder Kommune mindestens eine Leinwand gibt, wo Publikum jeden Alters sich Festivalfilme, aufregende alte und tolle neue Filme, anschauen kann, Wie weit sind darüber hinaus Ihre Pläne für die Zukunft des Festivals? Die Filmtage sind so, wie sie dastehen, ein sehr gut strukturiertes Festival. Und mit mir kommt da jetzt niemand, der sagt – nun wird alles anders. Im Detail kann dann vielleicht über einen Lebenswerkpreis nachgedacht werden, über eine Ausweitung des Angebots für Schulen. Insgesamt soll es darum gehen, die Schatzkiste der Nordischen Filmtage Lübeck öfter aufzumachen als nur fünf Tage im November. Nicht nur, um den Ausfall durch Corona zu kompensieren. Aber noch ist Linde Fröhlich am Start – und ich bin in nächster Zeit viel in Lübeck, um mir das Betriebssystem des Festivals erklären zu lassen. Ein Lebenswerkpreis könnte gut zum Gedanken der Retrospektive passen, der in Lübeck nach wie vor gepflegt wird … Ich bin ein großer Fan der Retrospektive, die im letzten Jahr Gangsterfilme und jetzt Fishermen’s Films gezeigt hat. Das ist ein sehr sinnlicher Zugang zur Filmgeschichte. Das Filmerbe ist außerdem ein brandaktuelles Thema; die Digitalisierung der Klassiker braucht noch über Jahre hinweg Unterstützung auf allen Ebenen. Und Festivals sind Orte, wo das kulturelle Erbe erlebt und zu den neuen Filmen in Beziehung gesetzt werden kann. Was macht für sie den guten Film aus? Das ist die bestmögliche Kombination von einer verstörend interessanten visuellen Welt und einer Geschichte, von der ich so noch nie gehört habe. Oder einer, die ich schon kenne, die mir aber auf eine völlig neue Art erzählt wird. Den Filmtagen wurde in den vergangenen Jahren oft der Mangel an Glamour nachgesagt. Vielleicht geht es Ihnen mit ihrer langjährigen Berlinale-Erfahrung ähnlich? Ich habe dieses Defizit nie so erlebt. Klar, Medien lieben Stars – und es mag sein, dass die Promis des nordischen Kinos nicht von allen gleich als solche erkannt werden. Lübeck ist kein A-Festival, sondern ein regionales Festival. Aber es ist sorgfältig kuratiert und legt großen Wert darauf, die Filme stets mit ihren Machern zu zeigen. Letztes Jahr war Mika Kaurismäki da und hat drei Tage lang das Publikum begeistert. Man sollte sich beim Thema Glamour einfach mal locker machen.