Song-Potpourri „Balkonien“ im Opernhaus Kiel uraufgeführt

What a wonderful world: Die Damenwelt gerät schon aus dem Spießerhäuschen, wenn dem gut gebauten Hausmeister (Isaak Thiesen) beim Blätterblasen zu heiß wird: So ein Mann …!. Und die separierten Herren sind mit ihrer Ordnungsliebe oder ihrem Coming Out vollauf beschäftigt. Kein Zwielicht, Sex ohne Crime, Drogen nur als selig ferne Erinnerung … Einen gehobenen Hinterhof in bester Wohnlage hat die Bühnenbildnerin Nadine Baske da gebaut. Und Bettina Rohrbeck, Jörg Diekneite und Ulrich Frey bestücken ihn mit sechs singenden Traumtänzern. Song-Unterhaltung zum wohligen Zurücklehnen: Eineinviertelstündchen Song-Unterhaltung zum wohligen Zurücklehnen. Und zur Freude an kleinen ironischen Brechungen in Schlagern und Popsongs der Hit-Kategorie. Oper (Mozarts Cosí, Verdis Traviata), Madrigal und klassisches Lied (Richard Strauss) sind lediglich rare Kontrapunkte. Viel Zeit ist unter Hygieneauflagen ja ohnehin nicht. Und vor jedem Pfiff auf den Fingern werden die Hände desinfiziert ... Keine Handlung, aber amüsante Enttarnung von Persönlichkeiten: Eine Handlung hat die Regie von Jörg Diekneite kaum zu bieten, aber durchaus amüsante Persönlichkeitsenttarnungen der Figuren. Da poltert das erzkomödiantische Chamäleon Jörg Sabrowski als pensionierter Pädagoge in Blockwart-Manier und Neuer-Deutscher-Welle-Simplizität, wenn wieder mal der Müll falsch entsorgt wird: „Da, da, da! Aha!“ Zugleich schlummert unter der überkorrekten Feiertagsweste aber auch der Paolo-Conte-Charme von Jack, der mit Ray Charles‘ Hit the road vielleicht doch noch den Sprung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit schafft, denn: Küssen kann man nicht alleine. Hippie-Mutti und Manga-Fratz Vielleicht ja irgendwann (oder früher schon mal …?) mit der alleinerziehenden Mutti Heidi, der Heike Wittlieb ganz wunderbar brav die Guten-Morgen-Sonnenschein-Schlager-Biederkeit mitgibt, aber eben auch etwas Hippie-Altlast aufblitzen lässt. Sie kabbelt sich mit ihrem Töchterlein, die Anna Fechner zart, aber frech als kleinen Manga-Fratz zeichnet. Man wünscht ihr Liebe ohne Leiden – und prompt angelt sie sich den knackigen Fahrradboten. Vielleicht schafft sie ja so den Sprung aus der gepflegten Hinterhof-Hölle. Coming out und junges Genöle: So wie der betörend säuselnde Gast-Tenor Sander de Jong: Als Niederländer für Tulpen aus Amsterdamprädestiniert, findet er über seine Mama mit Queens I want to break through im Glitzerfummel (Kostüme: Sabine Keil) zu seiner wahren „Miss-Understood“-Identität. Lisa Schmalz fehlt es dagegen bisweilen noch an Zaz-Lockerheit, um die ohnehin leicht verbiesterte und verqualmte Philosophie-Studentin Claire Sass aus der akademischen Stimmkontrolle ins Popuniversum zu überführen. Gerade das ist etwas, was Fenja Schneider über die gut gelingende Mikroport-Verstärkung in Perfektion mitbringt. Ob als virtuose Reinhard-Mey-Bürokratie-Kritikerin oder beim halbseidenen Donna Summer-Genöle: Ihre zappelig temperamentvolle Home-Office-Jule sitzt prägend. Ineinander verschnittene Songs: Noch klemmt in der philharmonischen Combo mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, zwei Violinen und Klavier unter der Leitung von Bettina Rohrbeck hier und da die Handbremse. Aber das wird sich im Windschatten von Wittenbrinks vorwitzigerem Dauerbrenner Sekretärinnen noch geben können. Ein großes Plus des Potpourris ist aber der Mut der Arrangeurin Rohrbeck, auch mal Songs ansatzweise provokant ineinander zu verschneiden und von Balkon zu Balkon, von Stimme zu Stimme springen zu lassen. Balkonien: Oper Kiel am 23., 29. und 30. August sowie 5., 6. und 25. September. Karten: 0431 / 901 901. www.theater-kiel.de Mehr zur Kultur in der Region lesen Sie hier.