Theater im Werftpark: Live-Game-Experiment in Gaarden

Erstmal ist noch nichts so richtig klar. Ein Feld auf dem Bildschirm schwarz, das andere erstarrt zu einer expressionistisch düster anmutenden Stadtansicht. Wasser blubbert, Möwen schreien. Dann eine Stimme; fragend, suchend stellt sie sich vor als ein gewisser Athanasius Pernath, der ohne nennenswerte Erinnerung an einem unbekannten Ort aufgewacht ist und offensichtlich Hilfe braucht. Auf der Suche nach Athanasius‘ Zuhause: Frei nach dem fantastischen Roman (1915) von Gustav Meyrink, der einen Mann zwischen Tag und Traum auf die Reise ins eigene Ich schickt, haben Schauspieler Sebastian Kreuzer und Regisseurin Tabea Wiese das Drehbuch verfasst. Während im Werftpark-Theater Kreuzer alias Athanasius Pernath das Spiel in Gang bringt, sitzen die Zuschauer zu Hause vor den Monitoren und lauschen erstmal einem Hörspiel. Trotzdem wird es schnell geschäftig auf dem Bildschirm. Zumindest im Chat, wo die richtigen Fragen gestellt werden: Wie sieht es aus, wo du bist? Ist da eine Brücke? Weißt du nicht, wo du wohnst? Dann geht es per Link auf einen Stadtplan von Gaarden, auf dem wie von Geisterhand Linien und Namen erscheinen. Emsig huschen sie umher, bis Straßen und Orte gefunden und verbunden sind auf der Suche nach Athanasius‘ Zuhause. Dass nebenbei noch eine Dönerbude angelaufen wird, damit der ausgehungerte Held wieder zu Kräften kommen kann, empfiehlt der gesunde Menschenverstand der Mitspieler. Der Golem oder Chaos im Kopf: Drumherum ist alles sehr rätselhaft, aber schnell steckt man mitten drin im Verwirrspiel um den Golem, diesen künstlichen Menschen, der im Original durch die Gassen des Prager Ghettos striff. Irgendwann ist dann die Wohnung gefunden, und nach 23 Minuten schaltet Sebastian Kreuzer/Athanasius die Kamera ein, sehen wir den Schauspieler wie einen Prepper hinter der Barrikade seiner Gerätschaften sitzen und ahnen, dass hier einer der Welt abhanden gekommen sein könnte. „Komplettes Chaos“, attestiert er sich, „vielleicht könnt ihr Ordnung in meine Gedanken bringen.“ Ob das Kopfgeburten sind, Träume oder Erinnerungen ist erstmal nebensächlich – mithalten ist angesagt. Also fliegt die Maus, geht es, klickklick, aufs Youtube-Video mit einem lustigen Knilch namens Zwakh (Simon Burghart), angeblich Athanasius‘ Kumpel, oder im nächsten Tab auf ein Buchstabenrätsel, dessen Lösung den Weg zu Ebay weist. Undsoweiter. Hochkonzentriertes Live-Game: Nebenbei wollen der Chat, in dem im Sekundentakt neue Nachrichten aufpoppen, wie der Held im Blick behalten werden – bevor er die nächste Frage stellt, den nächsten Link losschickt. Ein biestiger Trödler namens Aaron Wassertrum (Horst Stenzel), der in der Unterwelt des Werftpark-Theaters herumkraucht, spielt da ebenso seine Rolle wie die klangvolle Stimme einer gewissen Miriam (Godje Hansen), die gern wieder Kontakt hätte mit Athanasius. Ein echter Konzentrationsakt, den Sebastian Kreuzer und die Regie hier zwischen den diversen Ebenen absolvieren. Ob man dem Rätsel des Golem so langsam näher kommt? Einer hat die Lösung jedenfalls schon ziemlich früh raus – oder Meyrink gelesen. Es gibt also Hänger, bleibt als Ganzes aber ziemlich komplex; auch wenn das für echte Hacker womöglich zu den leichteren Übungen gehört. Nicht immer funktioniert die Dramaturgie so, dass alle Ebenen locker ineinander greifen. Und das Medium Theater ist am Ende doch zweitrangig, weil der theatrale Raum fehlt, und weil Kreuzer neben der Figur eben auch den Spielmacher geben muss. Ausbaufähiges Experiment: Im letzten Drittel steigt das Tempo und parallel dazu die Chat-Frequenz. Und auch, wenn der Spielverlauf nicht wirklich zu verändern ist, bleibt es spannend. Erweist sich das Experiment zwischen Theater und E-Game, Live und Konserve als ausbaufähig. Und es passt als Blaupause auf die Geschichte von Meyrink, die ja auch schon ein Spiel war mit der Erinnerung und den Bildern im Kopf, mit Virtuellem und Realität. Kein Wunder, dass das Publikum am etwas plötzlichen Schluss (kein Spoiler!) nach kurzer Pause bereit ist fürs nächste Spiel. Weitere Termine: 20., 21., 22., 24., 28., 29. November, 7. + 12. Dezember. Kartentel. 0431/901901, www.theater-kiel.de