Seit Angela Merkel sich als CDU-Chefin zurückgezogen und ihren Abschied als Kanzlerin nach dieser Amtszeit für 2021 angekündigt hat, wird in der Bundespolitik spekuliert, ob sie sich aus taktischen Gründen sogar noch früher zurückziehen könnte. Ihr erneuter Zitter-Anfall lässt nun zusätzlich Sorgen an ihrem Gesundheitszustand aufkommen – und heizt die Nachfolge-Debatten weiter an. Wenn Merkel wirklich aufgrund von Krankheit zeitweise oder ganz ausfallen sollte – wer übernimmt dann für sie?
Kurzfristig: Olaf Scholz übernimmt
Kurzfristig ist diese Frage schnell beantwortet: In einem Unglücksfall, so auch bei plötzlicher Krankheit, würde der Vizekanzler kommissarisch die Amtsgeschäfte übernehmen: „Ist der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert, so vertritt ihn der gemäß Artikel 69 des Grundgesetzes der zu seinem Stellvertreter ernannte Bundesminister in seinem gesamten Geschäftsbereich“, heißt es in der Geschäftsordnung der Bundesregierung.
Im Video: Kanzlerin Merkel erleidet den dritten Zitteranfall
Vizekanzler unter Merkel ist derzeit Finanzminister Olaf Scholz (SPD), der sie auch vorerst im Kabinett ersetzen würde. Je nach Zustand würde es Merkel zustehen, den Umfang der Vertretung selbst zu bestimmen.
Im Notfall: Ursula von der Leyen übernimmt
Die Regelung trat in der Vergangenheit auch dann bereits in Kraft, wenn die Kanzlerin im Urlaub war und das Kabinett unter Leitung des Vizekanzlers tagte, konkret unter anderem von Guido Westerwelle (FDP) und Sigmar Gabriel (SPD).
Sollte aus irgendeinem Grund auch Olaf Scholz ausfallen, ginge die Aufgabe automatisch an den dienstältesten Minister im Kabinett – momentan wäre das Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU).
Bei Dauerausfall: Bundestag wählt neuen Kanzler
Der Einsatz des Vizes ist aber nur eine Übergangslösung, denn das Grundgesetz sieht keine kanzlerlose Zeit vor. Fällt der Regierungschef oder die -chefin ganz aus, müsste der Bundespräsident dem Bundestag umgehend einen Nachfolger zur Wahl vorschlagen, der im ersten Anlauf die absolute Mehrheit, also mehr als der Hälfte der Stimmen im Bundestag benötigt. In der CDU geht man zwar davon aus, dass Kramp-Karrenbauer den ersten Zugriff hätte – aber nicht unbedingt auch davon, dass sie gewinnen würde.
Würde der oder die Vorgeschlagene nicht gewählt, hat der Bundestag 14 Tage Zeit, die Wahl zu wiederholen und denselben oder einen anderen Kandidaten mit absoluter Mehrheit zu wählen. Der Bundespräsident muss ihn dann zum Kanzler ernennen.
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Bei Blockade: Steinmeier kann Bundestag auflösen
Scheitert das erneut, wird in einem dritten, sofort anschließenden Wahlgang der- oder diejenige mit den meisten Stimmen – also der einfachen Mehrheit – Kanzler oder Kanzlerin. In diesem Fall kann der Bundespräsident binnen sieben Tagen selbst entscheiden, den Gewinner zum Kanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Das zeigt: Einfach lässt sich der Bundestag nicht auflösen, wenn es keinen Kanzler gibt, der eine Vertrauensfrage stellt und verliert.
Die derzeitige Lage ist dabei besonders kompliziert: Die SPD hadert mit ihrer Rolle als Juniorpartner von CDU/CSU und hat bereits angekündigt, nach einem Rücktritt von Merkel nicht einfach deren Nachfolgerin als CDU-Chefin, Annegret Kramp-Karrenbauer, auch zur neuen Kanzlerin zu wählen. Die Frage wäre, ob sich diese Meinung ändert, wenn Merkel aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden würde. Immerhin sind angesichts der schlechten Umfragewerte weder SPD, noch Union scharf auf Neuwahlen.
Neue Chance für Jamaika
Das könnte auch dazu führen, dass die Union bei Grünen und FDP darum wirbt, ihren Kandidaten für den Rest der Legislaturperiode im Bundestag zu unterstützen. Würden sie mitmachen, könnten sie bis 2021 doch noch eine Jamaika-Koalition bilden.
Daran haben die Grünen angesichts ihrer hohen Umfragewerte, die sie bei Neuwahlen an die Macht führen könnten, aber kaum Interesse.
Notlösung Minderheitsregierung – oder doch Neuwahl
Denkbar ist aber, dass es über alle Fraktionen verteilt so viele Abgeordnete gibt, die Neuwahlen verhindern wollen, dass ihre Stimmen zum Beispiel Kramp-Karrenbauer reichen würden, um zur Kanzlerin gewählt zu werden – auch ohne anschließende Koalition.
Sie könnte dann ein Kabinett ausschließlich aus CDU/CSU-Ministern zusammenstellen, das seine Gesetze mit wechselnden Mehrheiten durchbringt. Dem neuen Kabinett könnte zum Beispiel auch Friedrich Merz als Minister angehören – so könnten sich auch Zweifler in der Union zu dem ungeliebten Modell einer Minderheitsregierung bewegen lassen.
Diese Varianten gelten in Berlin aber als unwahrscheinlich. Zeichnet sich ab, dass die schwarz-rote Koalition zerfällt und sich keine neue Koalition findet, dürften die Parteien eher Neuwahlen anstreben. Dafür müsste entweder Merkel noch einmal die Vertrauensfrage stellen und absichtlich verlieren – wie 2005 Gerhard Schröder –, was freilich kein schöner Abschied wäre. Oder es müsste sich ein Kandidat finden, der absichtlich drei Mal antritt und drei Mal keine Mehrheit findet. Ob sich das jemand zumutet, der danach Kanzler werden will, darf bezweifelt werden.
Von Hanna Gerwig/RND