Kritik von Kieler Professor: "Die Corona-Zahlen sind nur eingeschränkt brauchbar"

"Es wurde über einen langen Zeitraum auch in den Medien der Eindruck vermittelt, dass jeden Tag eine gleich große Zufallsstichprobe aus der deutschen Bevölkerung gezogen wurde, aber das war ja nicht so", sagt Krawczak. Deshalb wisse man bis heute nicht, was genau die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) über das Infektionsgeschehen aussagen. "Wenn Sie überwiegend Leute mit einer hohen A-priori-Wahrscheinlichkeit testen, weil diese Leute zum Beispiel Symptome haben oder aus einer infektiösen Umgebung oder aus einem Risikogebiet kommen, dann werden Sie im Ergebnis viele positiv Getestete bekommen. Wenn Sie dagegen Leute von der Straße, also ein Zufallskollektiv testen, werden Sie deutlich weniger positive Testergebnisse erhalten." Wenn eine Korrelation von nur fünf Prozent zwischen dem Merkmal "Ich werde getestet" und dem Merkmal "Ich werde positiv getestet" besteht, ist die Aussagekraft von 10.000 positiv Getesteten hinsichtlich des tatsächlichen Infektionsgeschehens so viel wert wie diejenige von 20 zufällig getesteten Menschen. Das wies Krawczak zufolge der US-amerikanische Statistiker Xiao-Li Meng von der Harvard University nach. "Es ist verblüffend", konstatierte Krawczak. "Aber es ist tatsächlich so." Allerdings: Je mehr getestet werde, desto geringer falle dieser Effekt aus und relativiere sich bei zurzeit etwa einer Million PCR-Tests pro Woche in Deutschland. Was wäre die Alternative? "Man bräuchte eine Zufallskohorte von 20.000 Menschen in Deutschland aus allen sozialen Hintergründen. Jeder von ihnen würde zweimal pro Woche auf Covid-19 getestet. Dann hätte man super Zahlen." Lesen Sie auch: Wo kann ich mich auf Corona testen lassen? Tägliche Corona-Zahlen: "Eingeschränkt brauchbar und in Teilen problematisch": Der 61-jährige Krawczak ist Diplom-Mathematiker, wurde in Entwicklungsbiologie promoviert und habilitierte sich in Humangenetik. Vor einigen Monaten thematisierte er im Eröffnungsvortrag des National Digital Health Symposion, dass für viele wichtige Entscheidungen, die in der Pandemie getroffen werden müssen, "schlichtweg die nötigen Daten fehlen". Die aktuelle Krise sei "in Teilen eine Missing Data Crisis". Die täglich veröffentlichten Daten, konstatiert Krawczak, seien deshalb zwar nicht unbrauchbar, aber eingeschränkt brauchbar und in Teilen problematisch. Für das Deutsche Ärzteblatt schreibt Krawczak gegenwärtig zusammen mit Gerd Antes, einem Wegbereiter der evidenzbasierten Medizin, geboren in Wasbek bei Neumünster, einen Artikel zur Frage: Welche Daten braucht man in einer Pandemie, um damit politische Entscheidungen sinnvoll zu unterfüttern? "Wir hinken ein bisschen hinterher", bekennt Krawczak. "Denn der Wissenschaftsrat hat bereits im Januar Defizite in der Dateninfrastruktur offengelegt." Jüngste Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen eine Übersterblichkeit im Jahr 2020 infolge der Pandemie, allerdings noch ohne Benennung der Todesursachen. 2019 starben 939.520 Menschen in Deutschland (täglich 2574), davon 331.200 an Herz-Kreislauf-Erkrankungen (907 am Tag), 231.300 an Krebserkrankungen (633 am Tag) und 67.000 an Atemwegserkrankungen (183 am Tag). Keine Trennung zwischen an und mit Covid-19-Gestorbenen: Das Robert-Koch-Institut hat von Beginn der Pandemie an offen kommuniziert, dass jeder Mensch, der mit nachgewiesener Covid-19-Infektion gestorben ist, als Toter in die Corona-Statistik eingehe. "Bislang lässt sich auch nicht mehr sagen", kommentiert Krawczak. "Weil es keine systematische Trennung zwischen mit und an Covid-19-Gestorbenen gibt." Wenn jedoch Pathologen – wie in Kiel etwa Prof. Christoph Röcken – in Obduktionen nachwiesen, dass ein Mensch vielleicht in einem Monat an seinem Lungenkarzinom oder an COPD gestorben wäre, aber eben nicht schon zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Mensch mit einer Corona-Infektion tatsächlich gestorben ist, dann sei dieser Mensch an Covid-19 gestorben. "Der Anteil dieser Menschen an den Toten in der RKI-Statistik wird erheblich sein", vermutet Krawczak. Die Frage, auf die alle Erhebungen und alle kritische Betrachtung der verfügbaren Daten hinausliefen, sei: Wie viel Lebenszeit hat dieses Virus gekostet? Krawczak: "Diese Frage stellt aber niemand – aus ethischen und anderen Gründen. Statistisch betrachtet, sind es zwei verschiedene Fragen: Wie viele Leben rette ich mit welcher Maßnahme? Und: Wie viel Lebenszeit in Jahren oder Monaten rette ich mit welcher Maßnahme?" Corona-Pandemie könnte Chancen für den Klimaschutz bieten: Viele Kranke trauten sich nicht in Kliniken und Arztpraxen. Mehr Tote durch späte Diagnostik, zu Hause erlittene Herzinfarkte und Schlaganfälle, ausgebliebene Krebs-Früherkennungsuntersuchungen? Weniger Tote infolge der Lockdowns durch weniger Verkehrsunfälle, Glatteisunfälle, Grippe-Infektionen? Rechnet Mathematiker Krawczak mit genauen Auswertungen zu diesen Fragen? "Ja. Denn am Ende des Tages werden Wissenschaftler auch von ihrer fachlichen Neugier getrieben." Er erwarte ebenso positive Effekte der Pandemie. "Die Bedrohung durch den Klimawandel ist größer, aber zeitlich weiter entfernt. Die Politik kann sich nun bei anderen drängenden Problemen nicht mehr wegducken und behaupten, diese oder jene Maßnahme sei Menschen nicht zuzumuten."

Corona: Kritik aus der Kieler Uni - Tägliche Daten nur bedingt brauchbar