Dr. Ralf Schmitz aus Kiel zu Corona: „Dieser Notstand ist eine Schande!“

Endlich! Am vorvergangenen Freitag brachten es die Frühnachrichten: Über 20 schwerkranke Covid-19-Patienten aus Italien sollen in unser Land gebracht werden, auch nach Norddeutschland, um ihnen den Tod in ihrem Heimatland zu ersparen. Es ist die Zeit der Solidarität. Im Übrigen gibt es auch reichlich Schwachstellen in unserem ach so hochgelobten Gesundheitssystem. Auch hier fehlte es bis vor der Krise an Solidarität mit überforderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Pflege und ärztlichem Dienst. Jahrzehntelang wurde die medizinische Versorgung immer mehr auf ökonomische Effizienz getrimmt, um international agierenden Konzernen und deren Shareholdern zu gefallen. Daseinsfürsorge – was ist das? Wenn es Geld kostet, dann lassen wir es lieber. FFP2-Masken fehlen noch immer: So wurden Krankenhäuser gezwungen, ihren Laden am Laufen zu halten, allein aus den Erlösen der unsäglichen Fallpauschalen. Das schließt Investitionen für notwendige Umbauten oder die Anschaffung von Großgeräten wie CT, MRT oder OP-Einrichtungen mit ein. Das dafür zuständige Land hatte sich jahrelang fast vollständig aus seiner Verantwortung zurückgezogen, der Schuldenbremse sei Dank. Zur Bewältigung der aktuellen Pandemie bräuchte es einen erstklassigen öffentlichen Gesundheitsdienst. Aufgrund schlechter Bezahlung sind diese lebenswichtigen behördlichen Organe aber so ausgedünnt worden, dass eine sinnhafte und vor allem vorausschauende Tätigkeit nicht mehr möglich war. Wie kann es zum Beispiel sein, dass unser MVZ Chirurgie als große chirurgische Versorgungseinrichtung mit 30000 Patienten und mehr als 3500 Operationen pro Jahr aktuell den Betrieb nur aufrechterhalten kann unter Bedingungen, wie sie vermutlich Albert Schweitzer schon aus seiner Tätigkeit in Lambarene in Afrika vor 100 Jahren vorfand? Wir haben – auch als sogenannte systemrelevante Ressource – bis heute noch keine einzige FFP2-Maske organisieren können. Wir können uns und unser dankenswert aufopferungsvoll arbeitendes Personal ausschließlich mit herkömmlichen OP-Masken nur sehr unzureichend schützen – und diese einfachen Mundschützer gehen bereits auch zur Neige. Kleinere Operationen müssen wir schon ohne die sonst zwingend vorgeschriebenen Masken vornehmen. Eine solche Situation in einem der reichsten Länder der Erde – das ist eine Schande! Geiz ist geil! Warum das Ganze? Geiz ist geil! Dieser Werbespruch eines Technikmarktes wurde falsch verstanden und leider zur Philosophie in der Gesundheitspolitik. Es durfte halt nichts kosten, deshalb wurde die Produktion von Medizinprodukten in Dritte-Welt-Länder ausgelagert. Vor 30 Jahren waren wir noch die Apotheke der Welt, aktuell bekommen wir keinen überlebenswichtigen Pneumokokken-Impfstoff und kein Paracetamol, ein Schmerzmittel, das früher tonnenweise am Oberrhein produziert wurde. Eine Pandemie ist ein schreckliches Ereignis, das ähnlich wie eine Naturkatastrophe über die Menschheit einbricht und viele Opfer hinterlässt. Im Gegensatz zu Tsunamis, Erdbeben oder Waldbränden haben wir jedoch aufgrund der Expertise von Virologen und Epidemiologen eine erheblich längere Vorlaufzeit. Diese könnte zur Planung genutzt werden, wenn, ja wenn das Thema Daseinsfürsorge auch ernst genommen würde. Eine vernünftige, zentral – nicht föderal – organisierte Krankenhausstruktur gehörte genauso dazu wie eine ausreichende Pandemieplanung im größten Bereich der medizinischen Versorgung, bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Nach der Sars-Pandemie 2002/2003 wurde von der Gesundheitspolitik im Lande tatsächlich eine Vorgehensweise schriftlich fixiert, wie die Bevölkerung in Schleswig-Holstein optimal zu schützen ist. Der größte Player in der medizinischen Versorgung, die Kassenärztliche Vereinigung, kam in diesem Szenario überhaupt nicht vor! Zum Verständnis: Das ist die Organisation, die im Moment alles wuppen muss, vom Aufbau von Abstrichzentren, Versorgung der Praxen mit Schutzausrüstung bis zur Behandlung von Corona-infizierten Patienten, die (noch) nicht krankenhauspflichtig sind und einer Beatmung bedürfen. Eine Ablauforganisation wie aus einem Improvisationstheater, Lambarene lässt grüßen. Unsere Gesellschaft wird nach der Pandemie eine andere sein: Ein weiteres Thema ist das reflexhafte Beenden der übrigen, nicht Corona-bedingten Versorgung. Zwar war es bis vor Kurzem noch möglich, sein Äußeres beim Friseur zu optimieren, medizinisch indizierte Behandlungen aber sollten in Krankenhäusern grundsätzlich zur Schonung von Ressourcen und im niedergelassenen Bereich zumindest aus Solidarität mit den Kliniken auch nicht mehr erfolgen. Hier bedarf es, insbesondere auch für die Zukunft, einer Diskussion und abschließenden Klärung. Kennen Sie schon die Post aus dem Newsroom? Den kostenfreien Newsletter der Kieler Nachrichten versenden wir Mo-Fr ab 17 Uhr. Hier können Sie sich für unser Mailing anmelden. Sie interessieren sich für Holstein Kiel? Dann melden Sie sich hier für den Newsletter " Holstein Kiel - Die Woche " kostenfrei an. Versand: jeden Freitag, 11.30 Uhr. Aus meiner Sicht macht es wenig Sinn, eine mögliche todbringende Infektion mit Corona mit aller Macht zu verhindern, dafür aber am weiter sich durch den Körper fressenden Krebs zu versterben. Es geht auch weniger dramatisch: Eine Vielzahl von operativen Eingriffen sind zwar elektiv, das heißt, sie stellen keinen Notfall dar und können zu einem für alle Beteiligten optimalen Zeitpunkt durchgeführt werden. Sie sind und bleiben aber medizinisch indiziert. Und dies in den allermeisten Fällen, um schwerwiegende, möglicherweise auch lebensbedrohliche Komplikationen zu vermeiden. Beispielhaft seien die Entfernung der Gallenblase, der Leistenbruch oder auch der eingerissene Meniskus genannt. Natürlich verstirbt kein Mensch an einem lädierten Kniegelenk. Wird ein indizierter Eingriff am Meniskus aber auf Monate hin verschoben, so droht ein Fortschreiten der Arthrose, möglicherweise mit der Notwendigkeit einer endoprothetischen Versorgung. Ein geregeltes Vorgehen in einer solchen Situation ist unter Beteiligung aller medizinischen Fachgesellschaften, Berufsverbände und Standesorganisationen aber bis dato nicht geführt worden. Klar, weil sich niemand in den zuständigen Gesundheitsämtern oder Fachreferaten in den Ministerien dafür interessierte, beziehungsweise Geld dafür auf den Tisch legen wollte. Am Ende soll noch einmal klargestellt werden: Dies war kein Lamento und soll keine Schuldzuweisung sein. Dafür ist auch gar nicht die Zeit. Nun muss weiter gehandelt werden, mit aller Macht. Es gilt, das Virus zu bekämpfen und so viele Leben wie möglich zu retten. Dies aber solidarisch ohne Ansehen von Rasse, Glauben oder auch Staatsangehörigkeit – zumindest innerhalb der EU. Nach der Krise gibt es viel zu besprechen, unsere Gesellschaft wird dann auch eine andere sein. Ich hoffe, eine bessere! Diese Hoffnung wird bestärkt durch ein ungemein mitfühlendes und handelnde Verhalten in der Zivilgesellschaft: Wie sich junge Studenten um ihnen völlig unbekannte Senioren kümmern, Sportvereine für in Quarantäne befindliche Mitbürger einkaufen und um ihre Existenz kämpfende Restaurants für Obdachlose kochen – das ist Solidarität! Von Ralf W. Schmitz Lesen Sie auch: Partner, Eltern, Geschwister: Wer darf wen besuchen? 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