Impfung, Schulen, Notparlament im Lockdown: Kieler Verfassungsrechtler im Interview

Prof. Becker, Sie haben den Landtag im Herbst heftig dafür kritisiert, dass er angesichts fundamentaler Einschränkungen von Grundrechten seiner gesetzgeberischen Pflicht nicht ausreichend nachgekommen sei. Hat sich seitdem etwas verbessert? Florian Becker: Grundsätzlich ist eine beginnende Krise stets die Stunde der Exekutive. Von daher war es richtig, dass die Regierung die Initiative ergriffen und mit den ihr zustehenden Möglichkeiten der Gesetzgebung durch Verordnungen gehandelt hat. Allerdings ist das Parlament unmittelbarer legitimiert, um Grundrechtseinschränkungen einzuführen. Man muss sagen, dass zwar der Bundesgesetzgeber in einer diskutablen Weise versucht hat, bessere Rechtsgrundlagen zur Verfügung zu stellen und sich das Landesparlament inzwischen sehr positiv als Ort der politischen Auseinandersetzung und Kontrolle begreift. Als Gesetzgeber hat das Landesparlament aber immer noch nicht gehandelt. Das finde ich bedauerlich. An diesem Donnerstag wird es eine Sondersitzung des Landtags geben. Dabei sind die Würfel in der Ministerpräsidenten-Konferenz doch längst gefallen. Welchen Einfluss könnten die Abgeordneten auf die Entscheidungen noch nehmen? Das ist genau der Punkt: Die Würfel sind gefallen. Anstatt die Krise proaktiv durch Landesgesetzgebung zu gestalten, zum Beispiel für einen differenzierten, der konkreten Situation Schleswig-Holsteins und seiner Regionen angepassten Lockdown, lässt man sich in diesen Kooperationsstrudel reinziehen. Und das kritisieren Sie? Ja. Bei aller politischen Kontrolle der Regierung, die inzwischen stattfindet, fehlt mir der Akt der parlamentarischen Gesetzgebung. Den fände ich persönlich wichtig. Nun haben sich die Ministerpräsidenten unter anderem darauf geeinigt, den Bewegungsradius in Corona-Hotspots auf 15 Kilometer um den Wohnort einzuschränken. Es kann bei der Eindämmung dieser Pandemie nur darum gehen, Infektionen zu verhindern – aber doch nicht um Symbolpolitik! Das Problem muss an der Wurzel gepackt werden, nämlich Infektionen in sozialen Zusammenhängen zu unterbinden. Aber das kann ich nicht an Entfernungen festmachen. Ob ich mich nun bei mir zu Hause mit jemandem treffe oder in 16 Kilometern Entfernung, macht für die Infektionsgefahr keinen Unterschied. Diese räumliche Eingrenzung ist keine geeignete Maßnahme. Lesen Sie auch: Was die 15-Kilometer-Regel für den Norden bedeuten würde Durch die Einschränkung der Mobilität soll das Virus nicht mehr von einem Hotspot zum nächsten wandern. Sie müssen Ereignisse unterbinden. Es kann nicht darum gehen, die Mobilität der Leute um ihrer selbst willen zu verhindern. Mit dieser Argumentation müssten Sie der Ein-Personen-Regelung zustimmen, oder? Ja, die finde ich sinnvoll. Man kann darüber diskutieren, ob man das nicht auf zwei Haushalte beschränkt: Wenn eine Person das Virus von einem anderen Haushalt mitbringt, macht es keinen Unterschied, ob sie beim Treffen noch einen Partner dabei hat. Aber die Regulierung von Kontakten finde ich viel sinnvoller als die Regulierung von Bewegung. Lesen Sie auch: Welche Kontakte sind noch erlaubt? Sie sehen auch die Schulen unzureichend auf die zweite Welle vorbereitet. Warum? Online-Lehre wird sehr unterschiedlich durchgeführt, und in den einzelnen Familien gibt es sehr unterschiedliche technische Voraussetzungen. Seit März ist wahrscheinlich einiges geschehen, aber vermutlich nicht genug. Die Bildungschancen sind nicht für alle hergestellt. Aber das ist eine fundamentale Existenzbedingung unseres Schulsystems. Dass Bildungsgerechtigkeit das A und O ist, würde Ihnen nicht nur jeder Bildungspolitiker sofort unterschreiben. Nun sagt Bildungsministerin Karin Prien aber, dass man die Versäumnisse von Jahrzehnten nicht von einem Tag auf den anderen ausgleichen kann. Natürlich kann man das nicht ausgleichen. Aber wir sehen doch, wie schnell es die Privatwirtschaft geschafft hat, in Online-Formate zu wechseln. Lassen Sie uns übers Impfen reden. Prominente Politiker wie Nordrhein-Westfalens Regierungschef Armin Laschet (CDU) sprechen sich vehement dagegen aus, Menschen Vorrechte zu gewähren, die gegen Corona geimpft sind. Sie widersprechen. Es ist nicht so, dass es keine Impfpflichten gäbe. Für bestimmte Personengruppen gibt es eine gegen Masern. Ich finde es grundsätzlich richtig, es in die freie Entscheidung der Menschen zu stellen, ob sie sich impfen lassen wollen. Aber Freiheit hat immer auch Konsequenzen. Die Argumentation ist zumindest schief, von Sonderrechten für Geimpfte zu sprechen. Denn es geht ja darum, für diese Menschen, wenn sie geimpft sind, den grundrechtlichen Normalzustand wiederherzustellen: den Zustand der Freiheit – und dahin gehen zu können, wo man hingehen möchte. Niemand hat etwas davon, wenn Geimpfte weiter in ihrer Freiheit eingeschränkt bleiben. Bisher gibt es nicht einmal ansatzweise genügend Impfstoff. Da wären doch im Gegenteil Geduld und Solidarität gefragt, zumal Menschen, die geimpft sind, weiterhin ansteckend sein können. Das stimmt. Solidarität ist aber etwas, was Menschen freiwillig erbringen sollten und nichts, was ihnen hier qua Gesetz aufgezwungen werden kann, soweit die Solidarität nicht auch unmittelbar positive Auswirkungen auf andere hat. Dann wären wir wieder bei der Symbolpolitik. In einem Staat wie dem unseren wäre das in solchen grundrechtlichen Zusammenhängen zumindest fragwürdig. Was heißt das im Umkehrschluss für unsere Senioren- und Pflegeheime, in denen derzeit bevorzugt geimpft wird? Zum Beispiel, dass dort wieder andere Besuchsregeln eingeführt werden können und sich die Bewohner nicht eingesperrt fühlen müssen. Im Moment sind die Regeln drakonisch, um diese Menschen zu schützen. Wenn sie nicht mehr geschützt werden müssen, weil sie geimpft sind, besteht kein Anlass mehr, diese Regelungen aufrechtzuerhalten. Aktuelle Zahlen und Grafiken: So entwickelt sich das Coronavirus Corona-Liveblog: So ist die aktuelle Lage in Schleswig-Holstein Nächste Woche berät der Innen- und Rechtsausschuss im Landtag über eine Verfassungsänderung für ein Notparlament. Sollte sich die Pandemie weiter verschärfen, wäre der Landtag mit nur elf Abgeordneten beschlussfähig. Reicht das in der Krise? Es geht nicht um die Beschlussfähigkeit des Landtags. Die ist in der Verfassung geregelt und auf die Hälfte der Mitglieder festgelegt und soll auch nicht geändert werden. Man hat aber die Sorge, dass auch die Hälfte in der Pandemie nicht erreicht werden könnte. Deshalb schafft man ein Untergremium, auf das ein Großteil der parlamentarischen Kompetenzen delegiert wird. Dafür gibt es Vorbilder aus anderen Bundesländern. Allerdings meine ich, dass man aus verfassungspolitischer Sicht sehr zurückhaltend sein muss. Jeder einzelne Abgeordnete hat einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, an der Beschlussfassung des Parlaments teilzunehmen. Wir brauchen also gewichtige Gründe, um dieses Recht jenseits dieser elf Personen einzuschränken. Man müsste vorrangige Möglichkeiten ausloten, um sich nicht physisch zu treffen. Sie meinen digital? Genau, digital. Wie soll das technisch funktionieren? Bislang hat der Landtag Schwierigkeiten, selbst Ausschusssitzungen digital durchzuführen. Auch da kann man wieder in die Privatwirtschaft schauen: Der Bundesgesetzgeber hat den Aktiengesellschaften zu Beginn der Pandemie bereits die Möglichkeit eingeräumt, Hauptversammlungen online abzuhalten; der Landesgesetzgeber hat Ähnliches für die Gemeindevertretungen vorgesehen. Da denke ich, dass auch die Landtagsverwaltung leistungsfähig genug ist, um das für ein oberstes Verfassungsorgan zu übernehmen. Ist das eine Forderung? Das ist eine Empfehlung. Was wäre an einer Elf-Abgeordneten-Lösung so verwerflich? Es ist der Kern der Demokratie, dass wir Abgeordnete wählen, damit sie uns im Parlament vertreten und dass die wesentlichen Entscheidungen im Plenum von allen Abgeordneten getroffen werden. Die Elf-Personen-Lösung müsste unter strenge Bedingungen gestellt werden, um die absolute Ausnahme zu bleiben. Wir müssen alles dafür tun, damit es nicht zu dieser Lösung kommt. Interview: Christian Hiersemenzel