SPD-Landeschefin Midyatli will Schuldenbremse für Kitas und Schulen lockern

Seit ihrer Wahl zur SPD-Landesvorsitzenden in Schleswig-Holstein Ende März ist Serpil Midyatli landespolitisch kaum in Erscheinung getreten. KN-online fragte die Landtagsabgeordnete aus Gettorf nach den Gründen, dem Verhältnis zu ihrem politischen Ziehvater Ralf Stegner, dem Wettbewerb um den SPD-Bundesvorsitz und der Finanzierung von teuren SPD-Plänen wie einer Kostenlos-Kita in Schleswig-Holstein. Frau Midyatli, seit ihrer Wahl vor fünf Monaten haben Sie landespolitisch noch keine Akzente gesetzt. In der Jamaika-Koalition werden Sie als Totalausfall verspottet. Ich bin nicht Landesvorsitzende geworden, um anderen Parteien zu gefallen. Ich mache viele Antrittsbesuche, bin viel im Land unterwegs. Und das erfolgreich. Nach dem Start meiner Kita-Tour durch Schleswig-Holstein haben sich auch Kita-Minister Heiner Garg und die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Eka von Kalben, auf den Weg gemacht. Herr Garg hat sogar mehr Geld für die Kitas rausgerückt. Ich kann gut damit leben, dass ich unterschätzt werde. Auch in der SPD gibt es kritische Stimmen. Unabhängig davon: Sie sind in den vergangenen Monaten in allen landespolitischen Debatten vom Klimaschutz bis zur Grunderwerbsteuer abgetaucht. Ich bin nicht abgetaucht. Aber der gesamte Landesvorstand ist fast komplett neu im Amt. Wir sind gerade dabei, uns zu sortieren, uns organisatorisch aufzustellen und Schwerpunkte zu diskutieren. Außerdem bin ich niemand, der sich in den Vordergrund drängt. Ich arbeite im Team. Wir verteilen Aufgabe und Themen auf viele Schultern. Was ist dabei bisher politisch rübergekommen? Mein Stellvertreter Sönke Rix arbeitet an einem Rentenkonzept, wir tun konsequent etwas für Frauenpolitik und sind Teil eines breiten Bündnisses zum Schutz des Wassers und der Verhinderungen von Fracking. Das werden wird demnächst vorstellen. Außerdem wollen wir einige Anträge zum Bundesparteitag im Dezember stellen, darunter Ideen für den Zusammenhalt in einem Sozialstaat von morgen, für eine bezahlbare Energie- und Verkehrswende. Wie gesagt: Ich bin mit meiner Startbilanz zufrieden. Aber natürlich werde ich in den nächsten Monaten die Landespolitik stärker ins Visier nehmen. Sie haben sich aus der Führung der SPD-Landtagsfraktion zurückgezogen und reden nur noch selten im Landtag. Ich bin nicht mehr stellvertretende Fraktionsvorsitzenden, habe mich aber aus der Führung der Fraktion nicht zurückgezogen. Als Landesvorsitzende bin ich kooptiertes Mitglied des geschäftsführenden Fraktionsvorstandes. Insofern hat sich für mich rein gar nichts geändert. In dieser Woche hat der Landtag drei Tage getagt. Sie haben als Vorsitzende der größten Oppositionspartei gerade mal acht Minuten geredet. Das stimmt, die Minuten zu zählen ist aber mit Verlaub, lieber Herr Christen, ein bisschen albern, oder? Meine Redezeit hängt schließlich auch von der Tagesordnung ab. In der nächsten Tagung im September wird es um die Kita-Reform gehen. Das ist mein Bereich. Da werde ich länger reden. Ministerpräsident Daniel Günther hat übrigens in den vergangenen Monaten kaum im Landtag gesprochen. Stoppen Sie doch da mal die Redezeit. Mit Verlaub. Der Ministerpräsident kann seine Politik auch außerhalb des Landtags verkaufen. Für sie ist der Plenarsaal eine wichtige Bühne. Mir ist es sehr wichtig, im Land präsent zu sein und mit den Menschen vor Ort direkt zu sprechen. Die Menschen interessieren sich dafür, dass ihre Probleme gelöst werden. Fragen Sie doch mal die Bürger, welche Themen gerade im Landtag diskutiert wurden. Ich befürchte, dass weiß kaum einer. Gleichwohl ständen Sie als Fraktionsvorsitzende mehr im Rampenlicht. Diese Frage stellt sich im Moment nicht. Wir haben Ralf Stegner gerade erst als Fraktionsvorsitzenden bestätigt. Ralf Stegner ist landespolitisch ein Auslaufmodell. Er wird als Kandidat für den SPD-Bundes-Vorsitz bis Dezember in Kiel noch einen Gang zurückschalten müssen. Wir haben die Fraktion bereits breiter aufgestellt. Sie ist auf einem guten Weg. Ralf Stegner war ihr politischer Ziehvater. Wie ist ihr Verhältnis heute? Das Verhältnis ist sehr gut. Wir sprechen viel miteinander, auch über Strategien, das aber natürlich hinter verschlossenen Türen. Bleiben wir beim SPD-Bundesvorsitz. Es gibt gleich drei Kandidaten aus Schleswig-Holstein. Alle drei Kandidaten haben mit ihrem jeweiligen Tandempartner die nötige Unterstützung erhalten, um an den Regionalkonferenzen und der Mitgliederbefragung teilnehmen zu können. Das ist auch mein Erfolg. Ich habe natürlich Gespräche mit Kreisverbänden geführt, weil ich der Meinung bin, dass die SPD-Mitglieder bei der Urwahl eine möglichst große Auswahl haben sollten. Das ist gelungen. Wer von den Kandidaten wird es in der absehbaren Stichwahl schaffen? Stegner, die Bundestagsabgeordnete Nina Scheer oder Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange? Alle drei sind profilierte und angesehen Sozialdemokraten aus Schleswig-Holstein. Darüber hinaus gibt es weitere interessante Kandidierende. Wer in die Stichwahl kommt, ist deshalb sehr schwierig zu beantworten. Das wird vor allem von den Regionalkonferenzen abhängen. Hinzu kommt, dass die Entscheidung in einer Mitgliederbefragung fällt. Da sind viele dabei, die in der SPD kein Amt oder keine Funktion haben. Bei einem Parteitag wäre das einfacher einzuschätzen. Da kann man Mehrheiten organisieren. Es wird also spannend. Ich habe zwar einen Favoriten, bin mir aber noch nicht ganz sicher und möchte die inhaltlichen Positionierungen abwarten. Wie geht es mit der GroKo weiter. Sollte die SPD aussteigen? Das wird eine zentrale Frage bei der Wahl des Parteivorsitzes sein. Wir haben im SPD-Bundesvorstand ein Verfahren besprochen. Dabei wird auch geprüft, was die SPD in der GroKo noch erreichen kann. Ein Kernpunkt ist etwa eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Das Ganze ist ein offenes Verfahren, also keine Exit-Strategie. Sie waren anders als Stegner gegen die GroKo. Die GroKo war nie das Ziel der SPD. Wir haben nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auf Bundesebene nur unter großem öffentlichen Druck mitgemacht. Aber es stimmt: Ich war mit dem Koalitionsvertrag nicht zufrieden und war gegen die GroKo. Uns ist damals von einigen Herrschaften in der SPD gesagt worden, dass wir ohne GroKo unter 15 Prozent abstürzen würden. Jetzt liegt die SPD mit GroKo unter 15 Prozent. Am Sonntag wird in Brandenburg und Sachsen gewählt. Für die SPD sieht es nicht rosig aus. In Sachsen liegt die SPD laut Umfragen bei unter zehn Prozent auf Platz fünf. Ich hoffe, dass die SPD in Sachsen und Brandenburg besser abschneidet als in den Umfragen. Die SPD hat in beiden Ländern sehr erfolgreich regiert. So oder so muss die noch zu wählende Parteispitze in Berlin möglichst schnell eine Art Masterplan für die SPD in Ostdeutschland entwickeln. Die Partei muss in den ostdeutschen Ländern bessere Werte erzielen, wenn wir nach der nächsten Bundestagswahl die Kanzlerin oder den Kanzler stellen wollen. Kommentar: Bodo Stade zur Razzia-Debatte Im Frühjahr 2022 wird in Schleswig-Holstein gewählt. Einige mögliche SPD-Spitzenkandidaten, darunter Kiels OB Ulf Kämpfer, haben bereits abgewinkt. Treten Sie für die SPD an? Diese Frage kommt ein bisschen früh. Wir werden uns Anfang 2021 die Bewerberlage anschauen. Bei mehreren Kandidaten wird es Regionalkonferenzen und einen Mitgliederentscheid geben. Ministerpräsident Günther und die Regierungsparteien schießen sich schon auf mich als Spitzenkandidatin ein. Wir werden sehen. Alles gut. So oder so wird es nicht einfach für die SPD. Die Jamaika-Koalition macht bisher im Großen und Ganzen eine gute Arbeit – oder? Wie kommen Sie darauf? Die Menschen haben sich von dieser Regierung viel mehr erhofft. Versprechen, wie das zum Weiterbau der A20, wurden gebrochen. Der Ausbau der Windkraft ist ins Stocken geraten. Dort droht sogar ein Wildwuchs neuer Anlagen, weil die Regierung unsere fast fertige Regionalplanung erst über den Haufen geworfen hat und jetzt nicht liefert. Der Ministerpräsident hat das Windland Nummer eins zum Bremseland gemacht. Hinzu kommt das strukturelle Problem von Jamaika. Was meinen Sie? Die Regierungskoalition aus CDU, FDP und Grünen macht keine gemeinsame Politik. Jede Partei verfolgt ihren eigenen Kurs und darf ab und zu mal einen Punkt setzen. Jamaika hat kein gemeinsames Ziel und keine gemeinsame Idee für die Zukunft Schleswig-Holsteins. Das war in der Vorgängerkoalition aus SPD, Grünen und SSW anders. Setzen Sie nach der Landtagswahl 2022 auf die Grünen? SPD und Grüne ticken in vielen Bereichen ähnlich. Unsere Schnittmenge mit den Grünen ist größer als mit der CDU. Außerdem hat sich personell bei den Grünen und der SPD seit Bildung der Jamaika-Koalition 2017 einiges geändert. Deshalb glaube ich, dass wir 2022 eine andere und bessere Ausgangslage haben werden. Die SPD streitet trotz schwächelnder Konjunktur für eine gebührenfreie Kita. Dabei bleibt es auch. Wir wollen die Eltern bei den Beiträgen sofort entlasten, um allen Kindern Bildung in den Kitas zu ermöglichen. Andere norddeutsche Länder sind viel weiter. Mecklenburg-Vorpommern will eine kostenlose Betreuung von Schulkindern im Hort einführen. Auch dieses Problem müssen wir anpacken. Wie wollen Sie das bezahlen? Eine Kostenlos-Kita spart Folgekosten in Grund- und weiterführenden Schulen. Aber wir müssen auch prüfen, ob die fast eine Milliarde Euro, die Jamaika in Investitionstöpfen angespart hat, wirklich sinnvoll ausgegeben werden kann. Einen Teil dieser Mittel könnten wir für die frühkindliche Bildung und die Familie ausgeben. Das muss unser Schwerpunkt sein. Schleswig-Holstein darf außer in Notlagen keine neuen Schulden machen. Halten Sie an der Schuldenbremse fest? Die Schuldenbremse ist keine heilige Kuh. Die Menschen wollen einen verlässlichen Staat, der die Daseinsvorsorge garantiert. Ich bin deshalb dafür, die Schuldenbremse nicht generell, aber für bestimmte Investitionen des Landes zu lockern. Dazu gehören etwa die Kitas und die Schulen. Dafür wären neue Schulden gerechtfertigt. Jeder Euro, den wir dort mehr ausgeben, ist eine Investition in die Zukunft. Letzte Frage. Wo steht die SPD in SH und wo stehen Sie in fünf Jahren? Wir haben 2024 eine erfolgreiche Landtagswahl hinter uns. Ich bin dann eine glückliche und zufriedene Landesvorsitzende in Schleswig-Holstein.

SPD-Vorsitzende Midyatli - "Schuldenbremse ist keine heilige Kuh"