Silvester alleine: Psychologin erklärt wie man mit der Corona-Situation umgeht

Frau Kleinewördemann, steht uns heute ein furchtbarer Jahreswechsel bevor? Petra Kleinewördemann: Das kommt darauf an, was man unter „furchtbar“ versteht. Das ist sicher subjektiv. Viele Tierhalter sind zum Beispiel froh, dass es wenig oder gar nicht knallen wird. Leider haben solche Formulierungen die Tendenz, zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Das ganze Jahr über wurden wir „bombardiert“ mit Begriffen wie „Krieg gegen das Virus“, „harter Kampf gegen den unsichtbaren Feind“, „Pandemie-Katastrophe“, „Panik“- Käufe. Das erzeugt gewisse Bilder im Kopf, und unser Stressregulationssystem kann nicht unterscheiden zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Folge ist eine permanente unterschwellige Anspannung. Das tut unserer Psyche nicht gut und kann auch körperlich krank machen. Das kann man sich vorstellen. Viele werden Silvester vermutlich auch noch allein verbringen müssen. Fällt man da nicht zwangsläufig in ein tiefes Loch? Das Gefühl, allein zu sein, einsam zu sein, hat vermutlich jede oder jeder einmal im Laufe des Lebens gehabt. Wenn man in solchen Phasen dann nur noch vor sich hin grübelt, verstärkt sich alles Negative, und man kann in ein tiefes Loch der Zukunftsangst und Lustlosigkeit rutschen. Angst ist ansteckend. Wichtig ist, sich immer wieder klarzumachen, dass man diesem Sog nicht hilflos ausgeliefert ist. Es gibt viele bewährte Strategien und Methoden aus der Therapie- und Stressforschung, die nachweislich helfen. Alle aufzuzählen, würde hier aber sicherlich den Rahmen sprengen. Lesen Sie auch: Tipps für Silvester im Lockdown Mir würde zunächst schon eine einzige Strategie reichen. Wenn man das Gefühl hat, durchzudrehen, sollte man sich darauf konzentrieren, wo sich die Empfindungen im Körper verorten lassen. Angst ist etwas vollkommen Normales und Natürliches. Wenn man dies akzeptiert und zulässt, kann man sie verändern und „schmelzen“. Im Fall von Panik ist das Wichtigste, nicht allein zu bleiben. Rufen Sie jemanden an! Zur Not die Telefonseelsorge. Panik und Angst schrumpfen, wenn man sich mit Menschen verbindet, die zuhören, einfach nur da sind und Sicherheit geben. Menschen, die Humor haben, tun besonders gut. Was tut sonst noch gut? Angst richtet sich immer auf die Zukunft. Zurück ins Hier und Jetzt kommt man über körperliche Aktivitäten, tiefes Durchatmen, Bewegung, Körperpflege, sich was Gutes kochen und mit Genuss essen, aufräumen, puzzeln und so weiter. Auch Tiere helfen da super. Es tut auch gut, auf andere zu achten, für andere zu sorgen, insbesondere Mitmenschen, denen es gerade weniger gut geht. Klingeln Sie doch einfach mal bei einer Nachbarin, die allein ist, und essen Sie einen Berliner gemeinsam. Ansturm auf Corona-Impfung in Schleswig-Holstein: Erste Termine schon ausgebucht Verbotszonen: Wo Böllern an Silvester in Schleswig-Holstein nicht erlaubt ist Diese Corona-Regeln gelten für Silvester in Schleswig-Holstein Corona-Liveblog: So ist die aktuelle Lage in Schleswig-Holstein Weitere Informationen zum Coronavirus erhalten Sie auf unserer Themenseite. Und das hilft schon? Wir sind soziale Wesen und brauchen Kontakt sowie Austausch mit anderen. Für Alleinlebende stellt der Jahreswechsel möglicherweise eine sehr schwierige Situation dar, die sie bewältigen müssen. Dabei ist es für das emotionale Gleichgewicht wichtig, sich klarzumachen, dass der Ausnahmezustand zeitlich begrenzt und überschaubar bleibt. Und: Im Gegensatz zu früheren Generationen sind fast alle Menschen in Deutschland und sogar weltweit digital vernetzt. Wir können uns in Echtzeit schreiben, miteinander chatten, telefonieren, uns sehen und unterhalten – fast als säßen wir uns gegenüber. Man sollte diese Möglichkeiten voll ausnutzen, regelmäßig Kontakt halten, den Austausch mit möglichst vielen Angehörigen, Freunden und Bekannten suchen, sich über Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Besonders die alleinlebenden Angehörigen und Freunde – auch ganz besonders Menschen mit psychischen und körperlichen Grunderkrankungen. Petra Kleinewördemann ist Diplom-Psychologin – unter anderem auch Traumatherapeutin – und in akuten Krisensituationen, nach Unfällen und Gewaltereignissen im Einsatz. Ein besonderer Schwerpunkt bildet für die 56-Jährige die Arbeit mit Familien in Notsituationen. Als Dozentin gibt sie ihr Wissen im Rahmen von Vorträgen und Seminaren für Organisationen, Firmen, Reha-Kliniken und Bildungseinrichtungen weiter. Schon seit 1995 beschäftigte sich Petra Kleinewördemann während mehrjähriger Aufenthalte in Israel und den USA mit den Auswirkungen von Gewalt in Familien, insbesondere des Holocaust auf die Nachkommen in der dritten Generation. Anhand von Interviews mit Familienangehörigen von Holcaustüberlebenden und Tätern stellte sie fest, dass Kriegs- und andere Traumata generationsübergreifende Auswirkungen haben. Laut einer Allensbach-Umfrage blicken nur 22 Prozent der Befragten „hoffnungsvoll“ ins neue Jahr. Ist dieser Pessimismus berechtigt? Es gibt keinen Grund, die Hoffnung zu verlieren. Einerseits sollten alle den Ernst der Lage erkennen und sich entsprechend verhalten. Andererseits gibt es trotz allem keinen Grund zur Panik. Wir leben in einem reichen Land mit vielen Ressourcen und werden diese Krise durchstehen. Eine sachliche und vernünftige Einschätzung der Lage hilft dabei, sich nicht zu viele Sorgen zu machen. Seinen Kindern sollte man das in altersgerechter Sprache erläutern, ohne sie zu überfordern oder zu ängstigen. Die Botschaft sollte sein: Alles wird wieder gut. Sie sind Spezialistin für Traumafolgeschäden. Wird Corona bei uns ein Trauma hinterlassen? Der Begriff „Trauma“ wird dieser Tage inflationär benutzt. Menschen sind evolutionsmäßig betrachtet absolute Problemlöseprofis – insbesondere in Gruppen. Wir sind geborene Team-Player, rücken in Krisenzeiten zusammen, aktivieren Ressourcen und finden Lösungen. Global vernetzte Teams zum Beispiel entwickeln gerade effektive Medikamente und Impfstoffe. Seit Anfang März laufen unterschiedliche psychologische Studien zum Thema „psychische Gesundheit in Corona-Zeiten“. Es hat sich herausgestellt, dass es der Hälfte der Befragten gut geht. Sie fühlen sich weniger stressbelastet, verbringen beispielsweise mehr Zeit mit der Familie und ihren Hobbys. Weitere hilfreiche Tipps finden sich auch auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Psychologie https://psychologische-coronahilfe.de/hilfen-fuer-erwachsene/ Wie geht es den übrigen Befragten, die nicht gut mit der Situation klarkommen? Der anderen Hälfte geht es tatsächlich weniger gut. Sie leiden unter Existenzangst, Jobverlust oder arbeiten in systemrelevanten Berufen unter enormem Druck. Auch viele junge Erwachsene fühlen sich zurzeit einsam und haben Angst vor der Zukunft. Die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen ist drastisch gestiegen. Suizid ist unter 15- bis 25-Jährigen die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen im Straßenverkehr. Nun sitzen sie zu Hause, und die Eltern nerven. Ältere Menschen fürchten, ihre Autonomie zu verlieren. Sie möchten selbständig bleiben, anderen nicht zur Last fallen, und nun gelten sie plötzlich als Risikogruppe, die besonders geschützt werden muss. Wie können diese Menschen da herauskommen? Eine Hauptaufgabe wird es im kommenden Jahr für uns alle sein, mit der bestehenden Unsicherheit umgehen zu lernen. Nichts, aber auch gar nichts ist sicher. Das hinterlässt allerdings nicht zwangsläufig ein Trauma. Wir Menschen sind enorm anpassungsfähig, wenn es darauf ankommt und arrangieren uns relativ schnell mit neuen Gegebenheiten. Wie ich vorhin schon sagte: Die Botschaft „Alles wird wieder gut“ hilft da sehr. Interview: Kristiane Backheuer