Hinterhof statt Jahrmarkt: Schausteller zum Stillstand verdammt

Hier auf dem Hinterhof wohnen die Horlbecks in ihrem elf Meter langen Wohnwagen. Sie haben es sich gemütlich eingerichtet mit Ledercouch und Sessel, Glastisch und Anrichte. Im Hintergrund spielt Popmusik. „Ich fühl’ mich hier wohl“, bekräftigt Petra Horlbeck, während sie Kaffee und Frankfurter Kranz aus der kleinen Küche holt. Dann nimmt sie wieder ihren wenige Monate alten Enkel Aaron auf den Arm und füttert ihn mit der Flasche. In Neumünster und Umgebung haben viele Schaustellerfamilien ihren Stammsitz: Allein ist das Ehepaar nicht. Sein Heim ist umgeben von etlichen Wohn- und Campingwagen. In einem wohnt die jüngere Tochter (30) mit Mann und Baby Aaron, in weiteren Horlbecks Bruder und seine Familie. Zur Straße steht das Einfamilienhaus der Mutter, in dem die 86-jährige Witwe allein lebt. Die Großfamilie ist kein Einzelfall: „Viele Schaustellerfamilien haben ihr Betriebsgrundstück in und um Neumünster“, berichtet Andreas Horlbeck. Mehr als 20 Betriebe zählt seine Frau. Einige Familien leben ganzjährig wie die Horlbecks im Wohnwagen, andere stellen ihre mobilen Heime im Winter zusätzlich in Hallen, wieder andere wohnen auch zeitweise in Häusern. Ganz gleich, wo und wie die Schausteller wohnen, eins haben sie derzeit gemein: Sie sind sesshaft wie nie. In der Pandemie wohnen alle dicht beieinander: So eng und auf Dauer hockt auch die Familie Horlbeck sonst nicht zusammen. Die meiste Zeit des Jahres verbringen die vielen Familienmitglieder auf unterschiedlichen Märkten und Volksfesten. Selbst das Ehepaar Andreas und Petra Horlbeck ist getrennt unterwegs, denn es betreibt zwei Geschäfte: eine Bude mit Basketballspiel und eine Halle mit 18 Greiferautomaten. Pro Spiel bezahlt der Jahrmarktbesucher einen Euro – egal, ob er nun 40 Sekunden sein Glück beim Basketballwerfen versucht oder mit der Greifzange ein Stofftier aus dem Automaten fischen will. Petra Horlbeck ist mit dem Basketballspielgeschäft und dem großen Wohnwagen auf Reisen, unter anderem steht sie zwölf Wochen im Jahr auf dem Hamburger Dom. Ihr Ehemann tourt mit den Greifautomaten auch über kleinere Jahrmärkte und übernachtet in einem Campingwagen. So beschicken sie unterschiedliche Veranstaltungen und durchqueren von März bis Jahresende die halbe Republik. "Wenn sich die Menschen freuen, denke ich: Herrlich, ein schöneres Leben gibt es nicht": „Manchmal ist es ein harter Job. Da denke ich, was machst Du bloß“, gesteht Petra Horlbeck und stellt schnell klar: „Aber wenn ich dann die Leute sehe, wie sie in der Achterbahn kreischen, vor Freude jauchzen, wie sie schunkeln und singen, dann wiederum denke ich: Herrlich, ein schöneres Leben gibt es nicht.“ Auch ihr Mann erzählt von dem ständigen Hin und Her, von der Nervosität, ob der Umzug zum nächsten Markt rechtzeitig gelingt, vom Stress des Ab- und Aufbaus und dem schönsten Moment, wenn alles geschafft ist, er wieder gemütlich im Wohnwagen sitzt und ein neuer Jahrmarkt auf ihn wartet: Das ist wie ein Neustart, so ein schönes Gefühl.“ Seit einem Jahr gibt es dieses Gefühl nicht mehr. „Mit Corona ist das alles weg. Jetzt hockt man hier nur herum und geht sich auf die Nüsse“, sagt Horlbeck etwas scherzhaft und wird dann ernst: Zum ersten Mal in seinem Leben sei er zur Ruhe gekommen. „Das zu verarbeiten, ist ganz schwierig. Denn sonst haben wir immer Trubel, immer Menschen, immer Lärm um uns.“ Wie oft habe er sich gesagt: „Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, mache ich irgendetwas anderes, bloß kein Schausteller.“ Corona habe ihm diese bohrenden Zweifel genommen: „Jetzt merken wir auf einmal, wie sehr es uns fehlt.“ Die Pandemie bedroht die Existenz vieler Schausteller: Nicht nur emotional macht den Schaustellern die Pandemie zu schaffen. Auch finanziell. Volksfeste, Jahrmärkte, Weihnachtsmärkte – fast alles wurde abgesagt. „Wir haben monatlich unheimlich viel zu bezahlen“, sagt Horlbeck. „Die Kredite laufen weiter, Kredite für die Zugmaschinen, Spielautomaten, für den Campingwagen, das Auto, die neuen Fassade des Basketballgeschäfts – jedes Jahr kommen Investitionen dazu.“ Um die Krise abzufedern, habe er neue Kredite aufnehmen müssen: „Mit Schulden unsere Schulden zu bezahlen, das klappt momentan ganz gut“, sagt er. Den meisten Schaustellerkollegen gehe es eher schlechter: „Sie mussten Arbeitslosengeld beantragen.“ Laut Horlbeck sei er nicht nur deshalb vergleichsweise gut dran, weil er kein großes Fahrgeschäft finanzieren muss und bei den Banken gut dasteht, sondern auch, weil es in Schleswig-Holstein trotz Pandemie mehrere Herbstjahrmärkte gab und die Landeshauptstadt es Schaustellern ermöglichte, drei Monate lang an der Kiellinie Buden aufzustellen: Die eine Tochter (30) war mit ihrem Softeiswagen im Einsatz, die andere (33) mit einer Pommesbude, „und wir haben Schmalzkuchen verkauft“, berichtet Petra Horlbeck. Außerdem habe sie sich ein Crêpes-Eisen geliehen und vor Ort gelernt, die dünnen Pfannkuchen zu drehen. „Wir sind ja flexibel.“ Zwar fiel der Weihnachtsmarkt aus, der inzwischen für viele Schausteller der wichtigste Markt des Jahres sei, aber die Horlbecks gehörten zu den wenigen, die in der Adventszeit in der Kieler Innenstadt Stände platzieren konnten. Lesen Sie auch: Gorch-Fock soll noch dieses Jahr wieder segeln „Den Gedanken, dass es nicht mehr weitergeht, den lassen wir nicht zu.“: Den Lockdown verbringt Andreas Horlbeck nun mit Schweißarbeiten. Beschäftigungstherapie nennt er das. Zumindest dem kleinsten Horlbeck kam die Zwangspause gelegen. Aaron wurde am 15. Oktober geboren und hätte prompt eine Nebenrolle gespielt, wäre seine gesamte Familie auf dem Weihnachtsmarkt beschäftigt gewesen. „Das ist bei uns so: Kleine Kinder sind von Anfang an dabei. Erst stören sie, dann sind sie akzeptiert, dann Handlanger und irgendwann Arbeitskraft“, bringt es der Großvater auf den Punkt. „Schließlich ist Schausteller kein Beruf, es ist ein Leben.“ Er geht davon aus, dass mit Aaron die sechste Schausteller-Generation in der Familie geboren wurde. Der Junge wird vermutlich wie schon seine Vorfahren an vielen Orten die Schule besuchen. Und eines Tages wird er in seinem eigenen Wohnwagen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen. Ob Corona diese Tradition beenden könnte? Nein, an einem Ort zu verweilen, das sei nichts für sie, sind sich die Horlbecks jetzt ganz sicher. „Den Gedanken, dass es nicht mehr weitergeht, den lassen wir nicht zu.“