Neue Forschung: Kieler Weltwirtschaftsinstitut profitierte vom Nazi-Regime

Fast 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs liegt nun auch für das international renommierte Institut für Weltwirtschaft (IfW) eine gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit vor. Das IfW präsentierte vor 150-köpfigem Publikum in der Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (ZBW) Gunnar Takes Buch „Forschen für den Wirtschaftskrieg – Das Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus“. „Wir haben keinen Auftrag zu dieser Arbeit vergeben“, betonte IfW-Präsident Gabriel Felbermayr. Er sei froh, dass dieser Teil der Institutsvergangenheit von unabhängiger Seite erforscht worden sei. „Beschämend und verstörend“ nannte Felbermayr die enge Verflechtung des Instituts mit dem Regime zur Zeit des Nationalsozialismus. Takes Arbeit sei „ein Riesenglück und ein Geschenk, für das ich sehr dankbar bin“. Er wolle eine weitere Aufarbeitung unterstützen. Gunnar Takes Fokus liegt auf Prägungen und Handlungsspielräumen der Direktoren, Abteilungsleiter und Assistenten am IfW während der Nazi-Zeit. Das heutige IfW und dessen Fördergesellschaft beteiligten sich an Druck- und Archivreise-Kosten, auch die Axel Springer Stiftung unterstützte den Druck von „Forschen für den Wirtschaftskrieg. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus“ (538 S., ISBN 978-3-11-065887-3, 99,95 Euro, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston). Es ist zugleich Takes Doktorarbeit an der Europa-Universität Flensburg, betreut von Prof. Uwe Danker und finanziert durch ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung. IfW wollte Platz an der Sonne für das Deutsche Reich: Das IfW habe ihm bei seiner Forschung (2014-2017) stets optimalen Zugang ermöglicht, sagte Autor Gunnar Take. Ein solch unverkrampfter Umgang sei 1989, als das IfW 75-jähriges Bestehen feierte, nicht möglich gewesen. Damals sei mit üblichen Deutungsmustern operiert worden, wonach Andreas Predöhl, Institutsdirektor von 1934 bis zur Amtsenthebung durch die Briten ein halbes Jahr nach Kriegsende, zwangsläufig mit den Instanzen des NS-Regimes habe kooperieren müssen, um seine Mitarbeiter zu schützen. Lesen Sie auch: Vorstoß des IfW zum Klimaschutz Die Forscher des IfW hätten „wie unter einer Käseglocke“ von der totalitären Ideologie abgeschirmt arbeiten können, behauptete auch noch 1989 in seiner Feier-Ansprache Karl Schiller, SPD-Bundeswirtschaftsminister (1966-72) und in der Ära Predöhl Forschungsgruppenleiter am IfW. Gunnar Take hat die Käseglocke kraftvoll und umfassend angehoben. „Über mein Buch braucht niemand erschreckt zu sein“, sagte er am Donnerstag. Dem Institut, gegründet vor 106 Jahren und von 1915 an über eine Fördergesellschaft eng mit der Privatwirtschaft und den Wirtschaftseliten verknüpft, sei es bei Forschungen im Ersten Weltkrieg um einen Platz an der Sonne für das Deutsche Reich gegangen. Nach dem Krieg ließ das IfW sich voll auf die Weimarer Republik ein. Jüdischstämmige Ökonomen kamen nach Kiel, und die Rockefeller Foundation sicherte dem Institut das Überleben in der Weltwirtschaftskrise. Jüdische Mitarbeiter am IfW wurden vertrieben: Kurz nach der Machtübernahme der NSDAP überfielen SA-Männer fünfmal das IfW und vertrieben jüdischstämmige und bekennend pro-demokratische Professoren und Mitarbeiter. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs änderte das IfW den Kurs: Die Wirtschaftswissenschaftler erstellten nun zahlreiche kriegsvorbereitende Gutachten. Etwa 2000 Gutachten und Analysen, zumeist kriegsvorbereitende, erstellten Mitarbeiter des IfW und der IfW-Bibliothek (heute als ZBW unabhängig) für verschiedene Stellen des NS-Regimes. Nach der Besetzung Frankreichs und ersten Eroberungen in Nordafrika waren es Planungsstudien zum Zweck einer nachhaltigen wirtschaftlichen Ausbeutung. Das IfW entwarf Pläne für eine Europäische Großraumwirtschaft, die die exportorientierte deutsche Großindustrie begeisterte. Es analysierte Anfang 1942 den Ausbau von Wasserstraßen zwischen Ostsee und Schwarzem Meer als einer „Ausbeutungsinfrastruktur, um geraubte Nahrungsmittel und Rohstoffe sicher und im großen Stil aus der Ukraine abtransportieren zu können“, wie Take schreibt. „Keine ethisch vertretbaren Motive erkennbar“ seien bei den Forschungen zur „Getreidereserve“ in Südosteuropa. „Hier wurden Ausbeutungspotentiale ausgelotet, und es blieb unbestimmt, ob den betreffenden Menschen ein Existenzminimum gelassen werden sollte.“ „Außerordentlich gut informiert“ (Take) waren die wissenschaftlichen Mitarbeiter des IfW über die Verbrechen des NS-Regimes wegen ihres privilegierten Zugangs zu Wissensquellen, wie der New York Times. Schon 1942 berichtete diese über den Einsatz von Gaskammern und das volle Ausmaß des Holocausts mit seinen siebenstelligen Ermordungsziffern. Eine Lehre aus Takes „ungeheuer lehrreicher Dissertation“ sei, den Blick nicht allein auf die formalen Kriterien (NSDAP-Mitglied oder nicht?) zu richten, sondern auf die Loyalitätsnetzwerke, sagte Prof. Albrecht Ritschl von der London School of Economics. „Es geht hier nicht ums Nazi-Zählen, sondern um Fragen wie: Handelt jemand wie ein Nazi? Wie weit macht er sich gemein mit diesem System?“ Felbermayr: Unabhängigkeit als großes Gut: Die nachfolgende Podiumsdiskussion, straff moderiert von dem seit 48 Jahren am IfW tätigen Prof. Rolf J. Langhammer, prägte weitgehende Einmütigkeit. Kontroversen gab es nicht. Prof. Johannes Bröcker, Ökonom an der CAU und Zweitgutachter von Takes Doktorarbeit, erinnerte daran, dass auch die Kieler Universität spät, aber eben deutlich früher als das IfW, nämlich in den 1990er-Jahren, begonnen habe, ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Bröcker stellte klar: „Der Wert des IfW lag nicht darin, eine Blut- und Boden-Ideologie zu befördern, sondern darin, nützlichen Dienst zu tun. Nach kurzer Zeit haben die Nazis erkannt, welchen wirtschaftlichen Wert das Institut hatte.“ Lesen Sie auch: IfW Kiel prognostiziert Aufschwung frühestens 2021 Wissenschaftsstaatssekretär Oliver Grundei, Vorsitzender des IfW-Stiftungsrates, hatte in seinem Grußwort betont, Freiheit der Forschung und Lehre sei ein hohes Gut, und auf Artikel 5 Grundgesetz verwiesen: „Der Staat kann keine Forschungsmittel kürzen, nur weil ihm Ergebnisse der Forschung nicht gefallen.“ Ob heute die Gefahr bestehe, rote Linien zu überschreiten, ohne es zu bemerken, fragte Langhammer den IfW-Präsidenten. „Ja, natürlich sehe ich diese Gefahr“, so Felbermayr. „Das große Gut, das wir wahren müssen, ist die Unabhängigkeit.“ Aktuelles Beispiel: Die EU-Kommission vergebe Studien, bei denen Berechnungen der Kommission zu übernehmen seien. „Das machen wir nicht. Auch wenn EU-Geld hoch angesehen ist.“ Nach 1945: Alte Netzwerke bestanden weiter: Auch nach dem Krieg – die britische Militärregierung Schleswig-Holsteins hatte IfW-Direktor Andreas Predöhl ein halbes Jahr nach Kriegsende abgesetzt, als er schon alliierte Forschungsaufträge akquiriert hatte – bestanden alte Netzwerke weiter. Als extremes Beispiel nennt Take IfW-Expertisen gegen die Zerschlagung des in NS-Verbrechen eingebundenen Konzerns IG Farben. Jahrzehntelang habe es keine Versuche des IfW der Entschuldigung oder der Wiedergutmachung gegeben. „Das Engagement des IfW war vielfältig“, sagte Take am Donnerstag: „Auch für die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Weitere Nachrichten aus der Wirtschaft finden Sie hier.

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