Zeitzeugin Marianne Wilke beim Aktionstag gegen Rechts in Henstedt-Ulzburg.

„Das dürfen wir doch nicht wieder zulassen!“ Mit „das“ meinte Marianne Wilke das Einordnen von Menschen in Wertigkeiten, in wertvollere und weniger wertvolle. Wilke wandte sich mit diesem leidenschaftlichen Appell gegen die AfD, die viele Parallelen zu NSDAP aufweise. Wilkes Worte beeindruckten ihre rund 50 Zuhörer im Henstedt-Ulzburger Bürgerhaus beim Aktionstag „Aus der Geschichte lernen“. Denn die 92-Jährige hat als Kind und Jugendliche selbst die NS-Diktatur erlebt. Ihr Vater stammt aus einer jüdischen Familie, in der NS-Rassentheorie galt sie damit als Halbjüdin. Ihre Großeltern, ein Onkel und eine Tante wurden von den Nazis ermordet. „Man kann noch so viel lesen“, stellte ein Zuhörer anschließend fest: „Nichts ist so aufrüttelnd wie die Erinnerung eines Menschen, der die NS-Zeit miterlebt hat.“ Dabei erschüttert vor allem, dass die einzelnen Schritte, die schließlich zum Holocaust führten, teilweise fast banal wirken und von vielen Deutschen mitgegangen wurden. „Wir durften kein Fahrrad haben“, erinnerte sich Wilke; ihr Vater durfte keine Schreibmaschine benutzten und keine öffentlichen Verkehrsmittel. In Geschäften bekam Marianne Wilke als Teenager oft zu hören: „An Juden verkaufe ich nicht.“ Noch 80 Jahre später empört sie sich: „So etwas Demütigendes!“ Zeitzeugin ruft auf, sich zu engagieren, egal wofür: „Können Sie sich vorstellen, wie das ist, mit so einem Judenstern durch die Stadt zu laufen?“ Den mussten ihre Großeltern ab 1941 auf jedem Kleid, jeder Jacke und jedem Mantel tragen. Wilkes Schlussfolgerung: Paragraf 1 des Grundgesetzes ist immens wichtig: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie rief auf, an einer demokratische Gesellschaft mitzuwirken: „Wir müssen uns alle engagieren, egal wofür“, ob für den Klimaschutz oder im sozialen Bereich. Lesen Sie auch Menschenkette in Henstedt-Ulzburg als Ausdruck des Kampfes für Demokratie Demo-Teilnehmer in Henstedt-Ulzburg umgefahren: Staatsschutz ermittelt Der Vortrag der Zeitzeugin war der Höhepunkt des Aktionstags, den das Henstedt-Ulzburger Bündnis für Demokratie und Vielfalt am Sonntag organisiert hatte. Von 13 bis 19 Uhr präsentierten die Veranstalter im Bürgerhaus ein üppiges Angebot. Zwei Ausstellungen informierten auf zusammen mehr als 50 Tafeln über Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und die Geschichte rechtsradikaler Kräfte in der Bundesrepublik. Die „Omas gegen rechts“ aus Bad Segeberg waren vertreten, die Initiative „Segeberg bleibt bunt“, das Bündnis für Demokratie und Zivilcourage aus Kaltenkirchen und Kieler Organisationen gegen Rechtsextremismus. Und natürlich gab es Kaffee und Kuchen. Politiker berichteten von persönlichen Erlebnissen: „Wir stehen auch für die bürgerliche Mitte“, erklärte Britta Brünn, Behindertenbeauftragte in Henstedt-Ulzburg und Mitglied im Bündnis für Demokratie und Vielfalt. Aber sie stellte auch fest: „Wir sind immer noch nicht am Ende angekommen.“ Damit meinte sie die Geschichte der Diskriminierung von Menschengruppen in Deutschland. „Wer steht am Rand der Gesellschaft? Behinderte.“ Mit dem Zulauf im Bürgerhaus zeigte sich Brünn zufrieden. Vor allem die bunte Mischung im Publikum gefiel ihr. „Es ist wichtig, dass wir möglichst viele Multiplikatoren haben“, das Thema werde immer weiter bearbeitet werden müssen. Nach Marianne Wilke kamen Politiker auf die Bühne. Bengt Bergt, Bundestagsabgeordneter der SPD, berichtete von seiner Jugend im ländlichen Sachsen-Anhalt: Als „Zecke“ sei er mehrfach verprügelt worden, inklusive Kieferbruch und weiterer Verletzungen. Marianne Wilke hatte auf die Wirkung von Propaganda und Medien für die Verbreitung der NS-Ideologie hingewiesen: „Wenn ich denke, es hätte damals schon Fernsehen gegeben“. Bergt spann den Gedanken fort: „Hätte es damals schon das Internet gegeben … Viele Radikalisierungen geschehen im Internet“, stellte der Abgeordnete fest. Er forderte, „dieses Feld nicht den Nazis überlassen“. Stephan Holowaty, Landtagsabgeordneter der FDP, bedrückt, dass Hasskommentare nicht nur anonym kommen, sondern von „Menschen, die man kennt“. Ole Plambeck, der für die CDU im Landtag sitzt, machte auf Alltagsrassismus aufmerksam: „Gegenhalten ist ganz wichtig, auch im privaten Bereich.“ Im Freundeskreis und in der Familie falle das allerdings sehr schwer, wusste Stefan Weber, Landtagsabgeordneter der SPD.