Mit der Kraft des Platzverweises

Eigentlich schien alles vorbei. Eigentlich war dieses Spiel entschieden, die erneute und dann nicht mehr umzubiegende Führung für Erzgebirge Aue nur eine Frage der Zeit. Rot für Phil Neumann nach Ellenbogencheck gegen John-Patrick Strauß, Holstein Kiel 80 Minuten in Unterzahl – wie sollte da überhaupt an einen Punktgewinn für die Störche zu denken sein? Dass Holstein am Ende einen durchaus verdienten Zähler beim 1:1 in der Zweiten Fußball-Bundesliga bei den Veilchen holte, war ein unerwarteter Erfolg. Einer, zu dem es mit elf Mann wohl nicht gekommen wäre. Die Paradoxie des Platzverweises. „Wir haben einen schlechten Start ins Spiel gefunden, lagen zu Recht zurück, hätten sogar 0:2 hinten liegen können“, sagte KSV-Cheftrainer Ole Werner über die Anfangsviertelstunde seiner Mannschaft, die in Gleichzahl keinen Druck auf den Ball bekommen hatte, nicht auf der Höhe war. Dann die Rote Karte (15.) – und plötzlich ein anderes Spiel. Vor allem im Kopf. „Wir standen tiefer, mussten den Gegner ein bisschen kommen lassen. Aber ich glaube, jeder hat sich reingeworfen. Jeder hat das verteidigt, was er konnte – und wenn nicht, war der Mitspieler da“, sagte Rechtsverteidiger Jannik Dehm. Lesen Sie auch den Nachspielzeit-Kommentar: Ein gefühlter Sieg für Holstein Kiel Holstein Kiel hatte den Platzverweis gewissermaßen gebraucht. Auch wenn man gern darauf verzichtet hätte. Die Störche sind jetzt mit einigem Abstand Letzter in der Fairness-Tabelle, haben nicht nur die meisten Gelben, sondern auch die meisten Roten Karten der Liga kassiert. Und Neumann wird nun wohl nicht nur gegen den Hamburger SV (Mo., 20.30 Uhr) fehlen. Er ist „Wiederholungstäter“, war bereits am vorletzten Spieltag der vergangenen Saison beim 1:4 in Osnabrück früh des Feldes verwiesen worden (26. Minute), hatte deshalb auch den Auftakt in die aktuelle Spielzeit gegen den SC Paderborn (1:0) verpasst. In der Defensive wird Werner nach den Ausfällen von Marco Komenda (Ermüdungsbruch im Fuß) und Johannes van den Bergh (muskuläre Probleme) gegen den HSV also erneut zum Umbau der Viererkette gezwungen sein. Vorne kann er dafür wieder auf Fabian Reese setzen, der nach seiner Roten Karte gegen die SpVgg Greuther Fürth zurückkehrt. Auch gegen das Kleeblatt hatte sich das Spiel nach der Hinausstellung des Flügelstürmers (72.) noch einmal gewandelt. „Bezeichnenderweise haben wir erst nach dem Platzverweis die Präsenz und die Aggressivität im Spiel gehabt, wie wir heute gebraucht hätten“, hatte Werner nach dem Spiel gegen die Franken gesagt. Nur stand es zum Zeitpunkt der Roten Karte schon 1:3. Da war nichts mehr zu drehen. "Spielen wir zu zehnt oder die?": Anders als am Sonnabend in Aue, als sich die KSV mit Kampfgeist und taktischer Cleverness zum Punkt fightete, dabei auch offensiv noch genug Druck entfaltete, um fast noch selbst die drei Punkte mitzunehmen. Das erinnerte in Phasen an das fast schon legendäre 2:1 der Störche gegen den FC St. Pauli im April 2019, als die damals von Tim Walter trainierte Elf nach 41 Minuten und einer Notbremse von Stefan Thesker nur noch eine Zehn war, in Unterzahl dennoch ein erdrückendes Positionsspiel aufzog und einen 0:1-Rückstand völlig überzeugend in einen Sieg drehte. Werner stellte zwar nicht wie damals Walter radikal auf Dreierkette um. Aber er bediente die richtigen Hebel, um eine Balance herzustellen, die bemerkenswerte Aktivität nach vorne ermöglichte. Gepaart mit dem Willen und der Leidenschaft seiner Spieler sorgte das für eine gefühlte Gleichzahl – und noch mehr. „Die Auer Spieler haben uns manchmal gefragt, ob wir zu zehnt spielen oder die“, verriet Innenverteidiger Thesker. Wer solche Anekdoten vom Platz erzählen kann, muss viel richtig gemacht haben. Trotz oder gerade wegen der zahlenmäßigen Unterlegenheit. Und so gehen die Störche mit einem Erfolgserlebnis in die Vorbereitung auf das Nordderby am kommenden Montag. Der Dritte empfängt den Ersten unter Flutlicht – die Vorfreude war schon direkt nach dem Abpfiff in Aue greifbar. „Mit dem gleichen Kampfgeist“, sagte Kapitän Hauke Wahl, „ist mit elf Mann gegen den HSV auch wieder etwas drin.“ Zur Not aber eben auch zu zehnt.

Holstein Kiel in Unterzahl stark - Mit der Kraft des Platzverweises