Serie "Holstein Hundertzwanzig": Als der Storch die Flügel ausbreitete

Ein Abenteuer ist eine Zugfahrt im Jahr 1900 eigentlich nicht mehr. Das Zeitalter der Eisenbahn ist um die Jahrhundertwende längst in vollem Gange. Trotzdem ist diese Zugfahrt am 7. Oktober 1900 etwas Besonderes. Neun junge Männer brechen vom ein Jahr zuvor eröffneten Kieler Hauptbahnhof auf nach Lübeck. Sie wollen Fußball spielen. Und sie werden Fußball spielen. Als Kieler Fußball-Verein von 1900, der sich noch auf der Fahrt nach Lübeck gründet. Ein Akt des Separatismus, für den es Wagemut bedarf. Wagemut, ohne den es den heute als KSV Holstein bekannten Klub in dieser Form nicht geben würde. Denn eigentlich dürfen sie gar nicht spielen. Der Turnrat des KMTV, ihr Mutterverein, hat den Spieltrieb seiner fußballbegeisterten Mitglieder eine Weile geduldet. Aber ein richtiges Freundschaftsspiel gegen die Fußballer der Lübecker Turnerschaft? Das geht dann doch zu weit. Kieler Pioniere um Artur Beier und Georg P. Blaschke: Aber der Ball ist ins Rollen gekommen, und er lässt sich nicht mehr aufhalten. Die nun eben als KFV auf eigene Faust agierende Truppe um die Pioniere Artur Beier, Anfang des Jahres aus der Fußballhochburg Karlsruhe nach Kiel gekommen, und Georg P. Blaschke, ein Schlesier, seit drei Jahren in der Stadtverwaltung tätig, ist nicht mehr zu stoppen. Endstation Lübeck? Das hier, das ist erst der Anfang. Mit mit Besteigen des Zuges eskaliert eine Entwicklung, die eineinhalb Jahre vorher beginnt. Zwei heute nicht mehr namentlich bekannte Studenten aus Süddeutschland, dem gelobten Land des noch jungen Spiels im deutschen Kaiserreich, bringen die Kieler Turner mit ihrem Können am runden Leder zum Staunen. Der Flächenbrand Fußball setzt mit diesem Moment auch die Diaspora an der Ostsee in Flammen. Unter Federführung von Beier entsteht die Fußballabteilung, gemeinsam mit Blaschke gelingt die allmähliche Abspaltung. Unter dem Eindruck ihres Tuns formiert sich am 4. Mai 1902 der Kieler Fußball-Club Holstein, ein waschechter Schülerverein und späterer Fusionspartner des KFV, der schon bald an Einfluss verliert gegenüber Holstein, das ab 1908 als FV Holstein unterwegs ist. Der Klub um den legendären Schlussmann „Adsch Werner“, später erster Kieler Nationalspieler, steigt in atemberaubendem Tempo zur Nummer eins auf. Erst in Kiel, dann in Norddeutschland. Und schließlich im ganzen Reich. Erst Vize-, dann deutscher Meister: 1910. Holstein steht zum ersten Mal im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Der Gegner an jenem 15. Mai in Köln: der FV Karlsruhe, haushoher Favorit gegen den Emporkömmling aus dem fernen Norden. „Die Süddeutschen zeigten ein wirklich vorbildliches Spiel“, befinden die Kieler Neuesten Nachrichten, Vorgänger dieser Zeitung, im Nachgang. „Exaktes Stoppen des Balles, sicheres Zuspiel und Zusammenspiel vereinigten sich zu einem wohlabgerundeten Ganzen, in dem nur die verblüffende Schussunsicherheit des Sturmes störte.“ Holstein kann das 0:0 über die Zeit und sich in die Verlängerung retten – und würde vielleicht sogar den Titel gewinnen, wenn nicht gerade 1910, sondern 2020 wäre. Man ist zwar in Köln. Aber der Kölner Keller ist in dieser 114. Minute weit weg. „Der linke Flügel der Karlsruher wurde nach Ansicht des Schiedsrichters bei einem Angriffe auf Holsteins Tor regelwidrig behindert“, schreiben die KNN – „eine zu harte Entscheidung“. Strafstoß, Max Breunig versenkt. Vizemeister Holstein 1910. 1912. Meister Holstein: Es gibt ein Wiedersehen mit dem FV aus Karsruhe, zwei Jahre später, diesmal in Hamburg. 10000 Zuschauer im Stadion Hoheluft – neue Rekordkulisse für Norddeutschland – sind an diesem 26. Mai gekommen, um Holsteins Revanche gegen den abermaligen Favoriten zu verfolgen. „Holstein wie auch der Karlsruher Fußballverein waren in ihrer stärksten Aufstellung erschienen“, stellen die Kieler Neuesten Nachrichten fest. Der 1910 noch verletzte Werner, Torwart-Titan jener Tage, Hugo und Willi Fick, Willi Zincke, David Binder und natürlich Ernst Möller – Holstein bietet sein Tafelsilber auf. Und gewinnt absolut verdient durch Möllers Foulelfmeter (52.) mit 1:0. „Wenn eine Mannschaft innerhalb der letzten drei Jahre Anspruch auf diesen Ehrentitel hatte“, schreiben die KNN, „so war es die Mannschaft Holsteins.“ Fusion zur Kieler Sportvereinigung Holstein folgt 1917: Diesen Erfolg wird der Verein, ab dem 7. Juni 1917 nach der Fusion mit dem KFV als Kieler Sportvereinigung Holstein von 1900 e.V. firmierend, kurz KSV Holstein oder Holstein Kiel, bis heute nie mehr wiederholen können. Aber der Name dieses Klubs aus dem Norden, mit den Farben Blau (Trikot), Weiß (Hose) und Rot (Stutzen), ist damit für alle Zeiten Teil der deutschen Fußballgeschichte. Unter allen Großen des Geburtsjahres 1900 – Bayern München, 1. FC Kaiserslautern, Borussia Mönchengladbach, 1. FC Nürnberg – sind die Störche die mit dem rapidesten Aufstieg. Ein Steigflug auf den noch tiefe Fälle folgen sollen. Die neun jungen Pioniere im Zug nach Lübeck können von alldem damals nicht einmal ahnen. Die Begegnung gewinnen die Kieler im Zehn gegen Zehn, nach ihrer Ankunft verstärkt durch einen der Lübecker, mit 1:0. Der Torschütze: Georg P. Blaschke. Sie wollten einfach nur Fußball spielen. Mehr zu Holstein Kiel lesen Sie hier.