Serie zu 120 Jahren KSV: Zwei Widmayers schrieben Holstein Kiel-Geschichte

In einem Eckhaus in der Holtenauer Straße 199 wuchsen sie auf, knapp zehn Gehminuten vom Holstein-Sportplatz entfernt. Am Ende der Querstraße erreichten die vier Brüder den Westring. Mit dem Ball am Fuß tollten sie die letzten hundert Meter zur Sportanlage. Als nur noch Schweiß und Dreck an Haut und Kleidung klebten, machten sie sich wieder auf den Heimweg. Zwei dieser Brüder – Werner und Herbert Widmayer – schrieben Fußballgeschichte. Auch Kurt war ein guter Kicker. Siegfried hatte es eher mit dem Klavier. Doch die Spurensuche nach seinen beiden im Fußball erfolgreichen Brüdern beginnt bei Siegfrieds Sohn. Holger Widmayer, Jahrgang 1944, sitzt in seiner Wohnung in Kronshagen. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich Ordner. Einer ist aufgeklappt, zeigt in Schwarz-Weiß Köpfe einer Holstein-Elf früherer Tage, angelaufene Autogrammkarten, Ansichtskarten von der Sportanlage an der Projensdorfer Straße. Der pensionierte Beamte hat immer gesammelt: historische Postkarten aus Kiel und Umgebung, Dokumente aus dem Kieler Sport vergangener Jahrzehnte. Einen Großteil machen aber Fotos seiner Onkel Werner und Herbert aus. Wallende Mähne, muskolöser Oberkörper, kräftige Beine das war Werner Widmayer: „Werner Widmayer zeichnet sich durch gute Kombinationen, feine Ballbehandlung und einen herzhaften Schuss aus“, steht auf einer Sammelkarte aus den frühen 1930er Jahren. Bereits mit zehn Jahren fängt der älteste der vier Brüder bei der KSV das Kicken an. Obwohl einer der kleinsten aus dem Team, fällt Werner Widmayer auf Mannschaftsbildern auf: hoher Haaransatz, dunkle, wallende Mähne, muskulöser Oberkörper und kräftige Beine. Auf dem Platz sticht er erst recht heraus. In allen vier Spielen der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft 1930 trifft er zur Führung. Im Endspiel vor 40 000 Zuschauern im Düsseldorfer Rheinstadion erzielt Widmayer nach acht Minuten das 1:0. Nach dem 2:0 von Oskar Ritter hat er die Chance zum 3:0. Sein Schuss streicht knapp über die Latte. Nach Schlusspfiff feiern die Berliner. Denn Hertha gewinnt mit 5:4. Holstein ist „nur“ Vizemeister. Werner Widmayer absolvierte zwei A-Länderspiele für Deutschland: Nach der Vizemeisterschaft darf der halbrechte Stürmer in Länderspielen in Schweden und Norwegen zweimal für die DFB-Auswahl auflaufen. 1933 wechselt er zu Preußen Itzehoe. Während des Zweiten Weltkriegs stirbt Werner Widmayer 1942 in Russland. Seinen Neffen Holger lernt er nicht mehr kennen. Der wird erst später durch seinen „Lieblingsonkel“ Herbert vom Fußball „infiziert“. Auch Herbert Widmayer stürmt in der 1930ern für die Störche in der Gauliga – ein großer Fußballer wie sein Bruder ist er nicht. Dafür feiert er später als Trainer große Erfolge. Doch zur Geschichte Herbert Widmayers gehören zweifelsfrei auch mehrere Schicksalsschläge: Trotz zweier Abschüsse überlebt Herbert Widmayer als Kampfflieger den Weltkrieg. 1940 gerät er in Kriegsgefangenschaft in Kanada. Zurück in Kiel, liegt seine Frau 1947 im Sterben. Sein Bruder ist im Krieg gefallen. Jahre später steht er auch am Grab seines Sohnes, der bei einem Autounfall stirbt. Der Papa hatte seinem Filius den Wagen zur bestanden Führerscheinprüfung geschenkt. „Er hatte ein bewegtes und bewegendes Leben“, sagt Holger Widmayer mit belegter Stimme. Er bewahrt das Andenken an Herbert Widmayer. Blättern durch den Ordner über „Onkel Herbert“ ist eine Reise durch deutsche Fußballgeschichte. Herbert Widmayer wurde als Nürnberg-Trainer Deutscher Meister: Nach Kriegsende nimmt Herbert Widmayer 1948 am ersten Fußball-Lehrer-Lehrgang des DFB mit Ausbilder Sepp Herberger teil. „Ich habe nichts außer Fußball gelernt,“ soll er die Entscheidung begründet haben. 1960 landet er beim Rekordmeister 1. FC Nürnberg, der schon lange auf den achten Titel wartet. In Widmayers erstem Jahr beim „Glubb“ endet die Durststrecke: Der FCN schlägt am 24. Juni 1961 Borussia Dortmund mit 3:0 und wird Meister. Neffe Holger und Bruder Siegfried sind unter den 82 000 Zuschauern im Niedersachsenstadion in Hannover. Sie hatten zuvor gesehen wie im Vorspiel die Amateure von Holstein Kiel durch ein 5:1 gegen Siegburg 04 deutscher Amateurmeister wurden. Die Entlassung Widmayers 1963 ist nicht nur für seine rechte Hand auf dem Rasen, Max Morlock, unverständlich. Nationalspieler Heinz Strehl soll beim Abschied geschimpft haben: „Das ist eine riesige Sauerei, dieses Leben ist wirklich ein Scheißspiel.“ Widmayer, ein lebensfroher Mensch, immer einen Spruch auf den Lippen, trägt seinen Rauswurf mit Fassung und schreibt unfreiwillig Bundesliga-Geschichte: Er ist der erste entlassene Trainer der Liga-Historie. Als DFB-Jugendtrainer förderte Herbert Widmayer unter anderem Lothar Matthäus: Ab 1966 widmet sich Widmayer der stressfreieren Verbandsarbeit. Als Jugendtrainer beim DFB formt er spätere Größen wie Bernd Schuster und Lothar Matthäus, Bernd und Karlheinz Förster oder Rüdiger Abramczik und gehörte bei der Weltmeisterschaft 1974 zum Trainerstab von Helmut Schön. In Holger Widmayers Sammlung finden sich Bilder seines Onkels neben Hennes Weisweiler, Helmut Schön oder Jupp Derwall. „Er hat nie das Lachen verlernt, er besitzt die Naturkraft, begeistern zu können“, schrieb einst das Journal des Bundes Deutscher Fußball-Lehrer über Herbert Widmayer, der 1998 verstarb. So erlebte ihn auch Neffe Holger bei den regelmäßigen Besuchen Herbert Widmayers in Kiel. Der Stadt, in der die einzigartigen Fußballkarrieren der Brüder Werner und Herbert Widmayer begannen. Lesen Sie hier mehr über Holstein Kiel auf KN-online