THW Kiel schreibt ein Wintermärchen

Die kürzere Regenerationszeit, der schwerere Weg ins Finale, die dünner besetzte Auswechselbank - auf dem Papier war der THW Kiel vor diesem Final-Klassiker der klare Außenseiter. Doch nach dem dramatischen 36:35-Halbfinal-Drama vom Vorabend gegen Telekom Veszprém wuchsen die Zebras binnen 24 Stunden zum zweiten Mal über sich hinaus. Während Barca-Trainer Xavi Pascual es sich leisten konnte, den erfahrenen slowenischen Nationalspieler Jure Dolenec erst zum Finale für Domen Makuc in den Weltklasse-Kader zu rotieren, nahmen bei den Kielern nach den coronabedingten Ausfällen von Magnus Landin und Pavel Horak mit Malte Voigt, Oskar Sunnefeldt, Philipp Wäger und Leon Ciudad vier Spieler Platz, die zu Saisonbeginn in den Planungen von Trainer Filip Jicha noch gar keine Rolle gespielt hatten. Doch Not macht erfinderisch. Zumal die Not beim THW Kiel, der genau wie Barcelona konzentriert in die Partie startete, bald noch größer wurde: Die cleveren Spanier brauchten nur zehn Minuten, um beim Stand von 7:5 für Kiel bereits die zweite Zeitstrafe gegen THW-Star Sander Sagosen zu provozieren. Live-Ticker zum Nachlesen: THW Kiel gewinnt die Champions League: 33:38-Sieg gegen FC Barcelona Sagosen früh vorbelastet: Weil der Norweger bei der dritten mit Rot vom Platz gemusst hätte, musste Domagoj Duvnjak für ihn die Abwehr auf der linken Halbposition übernehmen. Mit Wiencek für Zarabec, Reinkind für Weinhold und Sagosen für Duvnjak führten die Kieler phasenweise drei Abwehr-Angriff-Wechsel durch. Sagosen revanchierte sich vorne mit einem Angriffs-Feuerwerk, trug genau wie Siebenmeter-Quotenwunder Niclas Ekberg vier Treffer zur 13:9-Führung der Zebras (19.) bei. Ein weiterer Faktor war Niklas Landin, der im Duell mit seinem Landsmann Kevin Möller im Barca-Tor den besseren Start erwischte, schnell vier Paraden verzeichnete. Perez de Vargas bringt THW Kiel ins Straucheln: Xavi Pascual reagierte, brachte Gonzalo Perez de Vargas (18.), der mit einer Gegenstoß-Parade gegen Ekberg das 14:9 für den THW verhinderte, dann einen Wurf von Reinkind fing und Sagosen und wieder Reinkind Würfe abnahm. Drei Minuten vor der Pause traf Dika Mem zum 15:15-Ausgleich. Lesen Sie auch: So ist das Handball-Final-Four ohne Fans Die Kieler setzten alles auf eine Karte - und auf den siebten Feldspieler im Angriff. Vor allem Rune Dahmke warf in dieser Phase alles ins Spiel, holte erst einen Siebenmeter raus, traf dann per Gegenstoß selbst zum 17:15. Zebras erkämpfen Drei-Tore-Vorsprung zur Pause: Nach einem starken Weinhold-Einsatz, der mit dem 18:16 fast von der Linksaußen-Position endete und einem Ballverlust von Luka Cindric, der einen Pekeler-Gegenstoß zum 19:16 ermöglichte, gingen die Kieler mit einem verdienten Drei-Tore-Vorsprung in die Pause. Nach Wiederanpfiff ging es weiter mit Taktik-Schach: Xavi Pascual stellte mit Blaz Janc THW-Regisseur Miha Zarabec einen Landsmann auf die Füße, um den quirligen Slowenen auszubremsen. Pascuals ehemaliger Schützling im Barca-Trikot, Jicha, reagierte, indem er erneut auf sieben Feldspieler setzte. Zwei davon am Kreis, so dass Barcelonas Abwehr wieder in die defensivere Formation gezwungen wurde. So war Platz für Sagosen, der mit dem 21:17 (35.) auf vier Tore erhöhte. Als Aitor Arino die Rolle des Störers übernahm, gelang es ihm, die Kieler so weit aus dem Tritt zu bringen, dass Cindric zwischenzeitlich auf 19:21 (39.) verkürzen konnte. Doch im Tor war Niklas Landin zur Stelle, verzeichnete in der 40. Minute seine elfte Parade und reihte sich ein in eine starke Mannschaftsleistung, in der fast alle Spieler für einige Minuten die Anführer-Rolle übernahmen. so auch Steffen Weinhold, der eine Viertelstunde vor Schluss auf 25:20 erhöhte. Es schien als gäbe es keinen taktischen Kniff mehr, mit dem Barca die Kieler überraschen könnte, so sehr strotzten die Zebras vor Selbstbewusstsein. Selbst als Zarabec sich zwie überhastete Würfe in Folge nahm und Reinkind erneut an Perez de Vargas scheiterte, sprang Rune Dahmke in die Bresche, eroberte den Ball zurück. Und auch als der Linksaußen selbst die Angriffs-Flaute mit einem Wurf neben das Tor verlängerte, war ein Teamkollege da: Niklas Landin fing den Wurf des blassen Aron Palmarsson als wäre es das Selbstverständlichste der Welt - die 15. Parade des Dänen. Dann aber machte sich die nun zu oft fahrlässige Chancenverwertung der Zebras doch auf der Anzeigetafel bemerkbar. Zarabec entschied sich nun oft für zu Riskante Pässe, lud Aleix Gomez zum Gegenstoß ein, anschließend traf der Rechtsaußen per Doppelschlag zum 23:26 (50.). Schlimmeres verhinderte immer wieder Landin. So hatte die Kieler Führung weiterhin Bestand, schien aber nicht mehr so unerschütterlich wie wenige Minuten zuvor. Sechs Minuten blieben Barcelona, um den Drei-Tore-Rückstand nach dem 28:25 aufzuholen. Blaz Janc nahm Sagosen nun in Manndeckung und schlug damit das nächste Kapitel im Taktik-Buch auf. Die Schlussphase geriet zum Kampf der Kieler gegen die Uhr, die eigenen müden Beine und den Gegner, der Morgenluft witterte, als Gomez beim Stand von 29:26 (57.) zum Siebenmeter antrat - und gegen den eingewechselten Dario Quenstedt den Wurf an die Latte setzte. Riesenjubel beim THW, der sich nun auch von der offenen Barca-Abwehr nicht mehr aus dem Tritt bringen ließ. Ekberg per Siebenmeter, Wiencek mit einem Treffer ins leere Barca-Tor, Dahmke mit einem Dribbling durch die offenen Abwehrreihen sorgten beim 32:27 (58.) für die Entscheidung. Barcelona hatte sich aufgegeben, und so geriet die letzte Spielminute zum freudigen Schaulaufen der Zebras, die die Zeit nach Dahmkes Treffer zum 33:28-Endstand herunterlaufen ließen, bevor sie sich in die Arme fielen Zahlen für die Geschichtsbücher: Für die Zebras ist es nicht nur der erste Champions-League-Titel seit acht Jahren, sondern auch der dritte bei einem Final Four in Köln. Keine Mannschaft hat das Final Four öfter gewonnen. Für den vierten Königsklassen-Triumph der Vereinsgeschichte (2006/07 gewannen die Kieler im Finale gegen Flensburg noch im alten Hin- und Rückspiel-Modus) gab es eine halte Million Euro Preisgeld. Und auch THW-Trainer Filip Jicha schrieb an diesem Abend Geschichte: Als erster Handballer gelang es ihm, sowohl als Spieler (2010 und 2012 mit dem THW) als auch als Trainer in Köln zu gewinnen. Die Statistik: THW Kiel: N. Landin (1.-60. Minute; 16/1 Paraden), Quenstedt (bei zwei 7m; 0) – Ehrig n.e., Duvnjak, Sagosen 7, Reinkind 1, Sunnefeldt n.e., Weinhold 5, Wiencek 2, Ekberg 8/6, Ciudad n.e., Wäger n.e., Dahmke 5, Zarabec 1, Voigt n.e., Pekeler 4. Barcelona: Møller (1.-18. Minute und bei einem 7m; 1 Parade), Perez de Vargas (bei zwei 7m und ab 18.; 12) – Entrerrios 1, Sorhaindo, Dolenec, Ariño 4, Janc, N’Guessan 1, Gómez 10/5, Thiagus Petrus 1, Mem 4, Cindric 3, Pascual n.e., Palmarsson 1, Fabregas 3, Frade. Schiedsrichter: Gubica/Milosevic (Kroatien) Strafminuten: THW 10 (2x Sagosen, 2x Weinhold, Wiencek), Barca 8 (Mem, 2x Thiagus Petrus, Janc) Siebenmeter: THW 6/6, Barca 7/5 (N. Landin pariert Dolenec, Gómez an die Latte) Spielfilm: 1:0, 4:4 (7.), 8:6, 10:8 (13.), 13:9, 14:13 (23.), 15:15, 19:16 – 21:17, 21:19 (39.), 25:20, 27:23 (52.), 29:26, 31:26 (58.), 33:28 Zuschauer: keine in der Kölner Lanxess Arena. Paris sichert sich Platz drei: Früher am Abend hatte sich Paris St. Germain im Spiel um Platz drei gegen Telekom Veszprém mit 31:26 (14:11) durchgesetzt.

Champions-League-Sieg über Barcelona - THW Kiel schreibt ein Wintermärchen