THW-Zeitreise mit Lövgren und Karabatic

Die Verletzungsmisere mit nur noch acht einsatzfähigen Feldspielern, eine Woche Warten zwischen Hin (28:28 in Flensburg)- und Rückspiel (29:27), damals, im alten Champions-League-Modus. Der riesige Erwartungsdruck – das alles ist sofort wieder da, kurz nachdem Nikola Karabatic seine Kinder ins Bett gebracht und den ruhigen Part des Tages in dieser Corona-Krise eingeläutet hat. Heute ist der Franzose 36 Jahre alt, der vielleicht kompletteste Handballer aller Zeiten, bis 2022 unter Vertrag bei Paris St. Germain, will trotz allem noch nicht an sein Karriereende denken. Damals, im April 2007, war er mit 23 schon eine Säule im Spiel des THW Kiel, angeleitet von seinem väterlichen Freund und Trainer Noka Serdarusic. Karabatic: "Die ganze Stadt wollte den Pokal": Der Antrieb dafür ist dem Weltstar heute noch präsent: „Der Verein sollte endlich diesen Titel gewinnen. Und dafür hatte er mich ja geholt“, erinnert sich Karabatic, der die Champions League bereits 2003 mit Montpellier gewonnen hatte. „Aber dieses Mal war der Druck viel größer. Die ganze Stadt wollte den Pokal. Und hätten wir ihn ausgerechnet gegen Flensburg verspielt, hätten wir wie Idioten dagestanden.“ Und da war noch eine Motivation: „Ich wollte den Titel für Stefan gewinnen.“ Stefan Lövgren, den damals 36-jährigen Mannschaftskapitän, Spielmacher, Leitwolf, der den DHB-Pokalsieg knapp zwei Wochen zuvor mit einer Verletzung im Adduktorenbereich bezahlt hatte. Und nun zum Zuschauen verdammt war. Lövgren kämpfte für "mikroskopisch kleine Chance": Lövgren, heute 49 Jahre alt und Handball-Funktionär, beschäftigt sich dieser Tage als Mitglied des Exekutivkomitees der Europäischen Handball-Föderation mit den Auswirkungen des Coronavirus und freut sich, für ein paar Minuten an etwas Unbeschwertes zu denken. Denn obwohl er im Finale nicht spielen konnte, ist er keineswegs wehmütig. „Ich hatte ja in den Spielen zuvor meinen Teil beigetragen“, sagt er. „Außerdem war in dieser Zeit jeder von uns Verletzten jeden Tag beim Training und hat Ideen oder gute Laune beigesteuert.“ Er erzählt, wie er alles versuchte, um irgendwie ausreichend fit zu werden. War der THW doch durch die Verletzungen von Marcus Ahlm, Henning Fritz, Lars Krogh Jeppesen und Viktor Szilagyi ohnehin schon gebeutelt. „Es gab eine mikroskopisch kleine Chance, und für die habe ich gekämpft“, erinnert er sich. Vergeblich. Zwar wärmte er sich im Rückspiel mit auf, saß auf der Bank, griff aber nie aktiv ins Spielgeschehen ein. Doch allein seine Anwesenheit und die Ungewissheit, ob er nicht vielleicht doch aufs Feld kommen würde, sorgte bei den Flensburgern von Trainer Kent-Harry Andersson merklich für Verwirrung. Denkwürdige Szenen: Es sind nicht unbedingt Spielszenen, die Lövgren in besonderer Erinnerung an die Finalspiele hat. Es sind Emotionen. „Die Bedeutung, dass wir endlich das geschafft haben, wofür so viele im Verein so lange gearbeitet hatten. Es war eine Mischung aus Euphorie und Erleichterung“, sagt er. Auch bei Karabatic sind die Erinnerungen an die 120 Minuten auf dem Feld nebensächlich. Und das, obwohl sie genügend Denkwürdiges zu bieten hatten: Im Hinspiel den Kopftreffer von Zeitz gegen Holpert, der in der 49. Minute das emotionale Fass zum Überlaufen brachte (Karabatic: „Hätte Zeitzi den reingemacht, hätten wir schon in Flensburg gewonnen“), im Rückspiel die frühe Rote Karte für Flensburgs Joakim Boldsen. Lövgren: „Schön fand ich, dass Boldsen nach dem Spiel gesagt hat, dass diese Entscheidung vertretbar war. Und dass Zeitzi gesagt hat, zwei Minuten wären ausreichend gewesen. Diese Fairness trotz aller Rivalität war gut für den Sport.“ Dazu der 42-jährige Handball-Rentner Andrej Xepkin, reaktiviert, um die Abwehr zu stabilisieren. Karabatic: „Im ersten Training haben wir uns alle gefragt, was Noka mit ihm will. Aber dann hat uns seine Erfahrung sehr geholfen.“ Serdarusic' Rede ein Schlüsselmoment: Ein Schlüsselmoment war für Karabatic und Lövgren eine Rede von Serdarusic. Karabatic erinnert sich: „Wir kamen mit dem Bus in Flensburg an, standen vor der Halle. Die SG hatte damals eine richtig starke Mannschaft. Wir hatten all die Verletzten und waren alles junge Spieler. Da hat Noka gesagt: ,Jungs, in diesem Finale will ich keinen von euch gegen einen Flensburger tauschen. Für mich ist Karabatic stärker als Blazenko Lackovic, Zeitz stärker als Boldsen, ich habe lieber Kim Andersson als Marcin Lijewski, lieber Vid Kavticnik als Sören Stryger, lieber Pelle Linders als Michael Knudsen. Ich möchte mit niemand anderen als euch in dieses Finale gehen. Und wir gewinnen das Ding.’ Das war ein richtiger Gänsehaut-Moment. Ich bin danach aus dem Bus gegangen und hatte keine Angst mehr. Ich war bereit, in den Kampf zu gehen.“ Der Kampf blieb Lövgren verwehrt, dennoch war er froh, im Rückspiel zumindest auf der Bank sitzen zu können. „Da kann man das Spiel wenigstens ein bisschen beeinflussen. Auf der Tribüne in Flensburg habe ich mich machtlos gefühlt.“ Erinnerungen an die Feier lückenhaft: Auch ohne den Kapitän bestanden die jungen Zebras ihre Reifeprüfung, wechselten sich Christian Zeitz und Dominik Klein auf der Mittelposition ab, hielt Thierry Omeyer wichtige Bälle, ackerte Pelle Linders am Kreis, zog Hendrik Lundström schließlich genügend Flensburger auf sich, um den Weg freizumachen für Kim Anderssons entscheidendes Tor zum 29:27 im Rückspiel. Und dann? Verblassen die Erinnerungen der Beteiligen. „Ich weiß noch, dass wir im Toni’s Pizza gebacken haben. Dann gibt es einige Lücken“, sagt Lövgren lachend über die feucht-fröhliche Titelfeier. „Aber das muss auch so sein.“ So groß die Freude über den Champions-League-Sieg 2007 war, so groß war auch die dunkle Wolke, die knapp zwei Jahre später über den Finalspielen auftauchte. Gegen den damaligen THW-Geschäftsführer Uwe Schwenker und Ex-Trainer Noka Serdarusic wurden Vorwürfe laut, den Champions-League-Sieg durch Schiedsrichterbestechung erkauft zu haben. Der „Handballskandal“ erschütterte die ganze Sportart. Im März 2009 analysierte die EHF die beiden Finalspiele aus dem Jahr 2007 und kam zu dem Schluss, dass keine Anzeichen für eine Manipulation des Spielausgangs zu finden seien. Die Staatsanwaltschaft Kiel nahm Ermittlungen gegen Schwenker wegen des Verdachts des Betruges und der Untreue und gegen Serdarusic wegen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue auf. Schwenker trat als Manager zurück, sagte vor der Staatsanwaltschaft aus. Im Januar 2011 beschloss die 5. Große Strafkammer des Kieler Landgerichts die Prozesseröffnung. Dieser endete mit Freispruch für Trainer und Manager in allen Anklagepunkten bezüglich der Bestechung und Spielmanipulation – allerdings einem zweiter Klasse. „Wir sind nicht von der Schuld der Angeklagten überzeugt – allerdings auch nicht von ihrer Unschuld“, sagte Richter Matthias Wardeck. Die Staatsanwaltschaft ging in Revision, doch im April 2013 wurde Schwenker auch vom Vorwurf der Untreue endgültig freigesprochen. Für die Spieler des THW Kiel steht ihr sportlicher Erfolg außer Frage. „Alle, die diese Spiele gespielt haben, haben sie sich im Nachhinein noch ein paar Mal angeschaut und sich selbst eine Meinung gebildet“, sagt Stefan Lövgren. „Es gibt immer 50:50-Entscheidungen in einem Handballspiel. In diesen Spielen waren sie fair verteilt.“ Mehr Nachrichten über den THW Kiel lesen Sie hier.

CL-Triumph 2007 - THW-Zeitreise mit Lövgren und Karabatic