Filip Jicha will 2020 "nicht verrückt werden"

Zum Ende des Jahres stehen Sie mit Ihrer Mannschaft in der Bundesliga und in der Champions-League-Gruppe an der Tabellenspitze, außerdem haben Sie das Final Four in Hamburg erreicht – was wollen Sie eigentlich noch mehr? Filip Jicha: Das ist wirklich ein Schritt nach vorne. Alle Jungs und alle Mitarbeiter im Verein genießen diese Momentaufnahme. Aber es ist eben nur eine Momentaufnahme. Ich habe einen Riesenrespekt vor den Jungs und davor, was sie jeden dritten Tag geleistet haben – bis auf wenige Ausrutscher. Der Dezember war wie erwartet ein richtig brutaler Krampf. Diese Phasen der Saison gehen wirklich an die Substanz. Da lernt man sich erst richtig kennen. Wir sind einen Tag nach Weihnachten nach Göppingen gefahren, zu einer Mannschaft, die am 15. Dezember ihr letztes Spiel hatte. Und wir haben in der gleichen Zeit zwei weitere Spiele absolviert und noch dazu Weihnachten ausgelassen – das ist etwas, das viele gar nicht sehen. Deshalb waren die zwei Punkte in Göppingen unglaubliche Big Points für uns. Sie wirkten in Göppingen angefasst, weil Sie Weihnachten zum großen Teil nicht mit der Familie verbringen konnten. Ich hasse es tatsächlich, Weihnachten nicht bei meiner Familie zu sein. Das habe ich als Sportler gehasst und hasse es jetzt als Trainer. Und wenn sich da nichts ändert, werde ich es einfach weiter hassen. Ich akzeptiere, dass die Bundesliga spielt, aber die Zeit um Weihnachten liegt mir sehr am Herzen. Denn diese Zeit gehört meiner Familie, nicht nur meinen Kindern, sondern auch meinen Eltern. Wir verbringen Weihnachten bei ihnen in Pilsen, mit meiner Schwester und meinen Nichten – mit der ganzen Familie. Das vermisse ich. Deshalb habe ich es fast den ganzen Dezember ausgeblendet. Ich wollte mich nicht davon ablenken lassen, dass es mich traurig macht, das Fest nicht mit meiner Familie feiern zu können. Ich bin zwar am 23. Dezember nach dem Training nach Hause geflogen. Aber nach der brutalen Niederlage gegen Wetzlar war es kein so entspanntes Weihnachten für mich. Ich muss noch lernen, die Sachen zu trennen. Ein Spaziergang mit meinen Kindern dort, wo ich aufgewachsen bin oder mit dem Hund im Wald, wo meine Lieblingsorte sind – das tat mir schon gut und hat mir vor Augen geführt, dass Handball nicht alles im Leben ist. Wie war es denn für die Kinder, dass Weihnachten mit ihrem Vater nur einen Tag gedauert hat? Die waren auch traurig. Aber wir sind meiner Meinung nach privilegiert, dürfen ein sehr glückliches Leben führen. Vielen Leuten geht es schlechter, dementsprechend will ich mich auch nicht beschweren. Valeria ist mit ihren zehn Jahren so groß, dass sie das alles verstehen kann. Und der Kleine ( Vincent, sieben Jahre, d. Red. ) ist so sportbegeistert, dass ihn interessiert, wie wir spielen. Er weiß, dass sein Papa Trainer im Profisport ist. Und wenn er am Abend vor einem Spiel einen Geheimtipp von mir bekommt, wer in der Startaufstellung steht, ist er überglücklich. Ihn kann ich mit Handball begeistern. Vali respektiert das, findet es aber uncool. Hat Vincent einen Lieblingsspieler? Immer. Wenn ein Torwart überragend hält, ist das sein Lieblingsspieler. Und wenn einer zehn Tore macht, ist das sein Lieblingsspieler. Wenn wir zusammen Sport schauen, müssen wir uns auch immer festlegen, wem wir die Daumen drücken. Stimmt es, dass es bei den Altenholzer Maxis eine Aufstellung mit Jicha und Szilagyi gibt? Ja, die gibt es auch (lacht). Da spielt Vincent mit Levi, dem mittleren Sohn von Viktor ( Szilagy, THW-Geschäftsführer, d. Red.), zusammen. Aber wenn Vincent sich jetzt für eine Sportart entscheiden müsste, würde er Fußball wählen. Was sind Ihre Highlights des Jahres gewesen? Sportlich gesehen sicherlich die Siege in Veszprém und Skopje. Da waren wir nicht in der Favoritenrolle und haben befreit gespielt. In Skopje waren wir sehr mutig, haben mit der verschobenen 5:1-Abwehr etwas Neues ausprobiert. Das hat mir und meinem jungen Trainerkopf auch einen gewissen Mut gegeben, einfach weiter Sachen auszuprobieren, von denen ich denke, dass sie funktionieren könnten. Wie auch im Pokal in Wetzlar, in dem wir zurücklagen und relativ früh mit dem siebten Feldspieler "all in" gehen mussten und das funktioniert hat – das sind Momente, die einen weiterbringen. Und die Tiefpunkte? Das waren die Spiele bei den Rhein-Neckar Löwen und in Berlin, die wir aus der Hand gegeben haben. Darüber habe ich mich mehr geärgert, als über die Heimniederlage gegen Wetzlar. Die war nur ein Fazit vom ganzen Dezember. Da hat der Torwart alles gehalten, uns damit Negativ-Erlebnisse beschert, und irgendwann haben die Jungs einfach aufgegeben und gesagt: Jetzt wollen wir Weihnachten und zur Familie. So haben wir dann auch gespielt. Das muss man als Sportler akzeptieren, den Mund abwischen und einfach weitergehen. Hat das immer so geklappt? Es kam ja auch häufiger die Frage nach der richtigen Einstellung auf. Auch aus der Mannschaft selbst. Es gibt in Deutschland nur zwei Mannschaften, die so ein Programm haben. Das sind wir und Flensburg. Flensburg erlaubt sich sechs Niederlagen in Folge in der Champions League. Dass wir in der Champions League nur einmal gegen Porto verloren haben, ist eine außergewöhnliche Leistung. Aber man kann die Spannung nicht immer hochhalten. Sicher, wir müssen da noch Fortschritte machen. Aber wir werden nie erreichen, dass wir alle Spiele mit zehn Toren gewinnen. Auch aufgrund der Tendenz, wie in der Bundesliga gepfiffen wird. Wie meinen Sie das? Es wird viel zu spät Zeitspiel abgepfiffen. Das war in meiner Zeit als Spieler noch nicht so, obwohl es die Sechs-Pässe-Regel noch nicht gab. Dadurch wird den schwächeren Gegnern geholfen. Deshalb ist meiner Meinung nach die Bundesliga auch so ausgeglichen. Die Zeitspiel-Auslegung hilft nicht denen, die Handball spielen, sondern denen, die das Tempo verschleppen wollen und das schlau machen – im Rahmen des momentan Erlaubten. Für uns geht es darum, das Beste aus diesem Rahmen zu machen. Wir müssen erkennen, was der Gegner vorhat und darauf reagieren, auch wenn das entgegen unserer Spielidee ist. Trotzdem macht es mich unglaublich wütend, dass man drei Minuten lang gut und korrekt deckt und am Ende nach fünf, sechs Freiwürfen mit einem Siebenmeter oder einer Zeitstrafe bestraft wird. Derzeit ist nicht der Bessere der Sieger, sondern derjenige, der den Rahmen voll ausgenutzt hat. Meiner persönlichen Meinung nach ist das nicht zielführend für unsere Sportart. Sind Sie also ein Befürworter einer Shotclock, die alle Angriffe auf eine bestimmte Zeit begrenzen würde und wie sie auch Ihr Vorgänger Alfred Gislason schon gefordert hat? Ich war nie ein Befürworter der Shotclock, aber seit ich mich so intensiv mit der Analyse beschäftige, bin ich es geworden. Damit würden wir den Schiedsrichtern helfen. Und das müssen wir auch. Denn sie haben einen besonders schwierigen Job. Sie sind jetzt ein halbes Jahr Cheftrainer. Hat Sie irgendetwas überrascht, oder waren Sie durch das Jahr als Co-Trainer von Alfred Gislason schon auf alles vorbereitet? Das soll nicht überheblich klingen, aber bisher hat mich nichts an diesem Job überrascht. Es ist das, was ich immer wollte. Das Schwierigste an dem Job ist sicherlich, wenn Phasen mit drei, vier oder fünf Niederlagen in Serie kommen – und das kann passieren. Dann gilt es, weiter an den eingeschlagenen Weg zu glauben und nicht alles über den Haufen zu werfen. Aber ich glaube, ich bin lange genug dabei, um zu verstehen, wie das funktioniert. Welche Ihrer Spieler sind für Sie die Gewinner der Hinrunde? Zum Beispiel Harald Reinkind, der zwei Monate lang alleine auf seiner Position war, unglaublich viele Minuten spielen musste und das richtig gut gemacht hat. Auch alle Mittelblockspieler machen ihre Sache gut – vor allem natürlich Peke (Hendrik Pekeler, d. Red.) und Patrick (Wiencek, d. Red.), die als Kreisläufer die meiste Belastung haben. Sie müssen im Abwehrzentrum unglaubliches leisten – und auch vorne, das sieht man nur nicht immer. Niclas Ekberg ist mit seiner Quote oft am Maximum, hat zwischendurch von 50 Siebenmetern 48 reingemacht. Das ist eine Wahnsinnsquote, die ich als Spieler selbst dann nicht gehabt hätte, wenn ich mich auf den Kopf gestellt hätte. Das zeigt, welche Qualität wir haben und welche Entwicklung wir genommen haben. Weil wir so viele Spiele haben und so wenig trainieren können, ist es für die jüngeren Spieler schwieriger, sich im Training Sicherheit zu holen. Aber alle sind unglaublich professionell und versuchen, alles reinzuhauen. Das gefällt mir. Was sind die Herausforderungen der Rückrunde? Ich sage der Mannschaft sehr häufig, dass ich für uns eine Möglichkeit kreieren möchte, am Ende der Saison um Titel spielen zu können. Diese Möglichkeit ist so zerbrechlich, dass man sie verliert, wenn man zwei, drei Mal Menschlichkeit zeigt und sagt: Jetzt brauche ich eine Pause. Das ist brutal. Trotzdem müssen wir das in der Rückserie und im gesamten Jahr 2020 noch besser hinbekommen. Mein Appell an alle ist: Wir müssen noch mehr aus der Komfortzone raus. Auch wenn wir da schon längst raus sind, uns – wie in solchen Phasen normal – gegenseitig auf die Nerven gehen, uns nicht mehr sehen möchten und am liebsten drei Wochen in Ruhe gelassen werden möchten. Wie werden Sie die Europameisterschaft verfolgen? Ich werde drei oder vier Tage in Wien sein und mir Spiele der Hauptrunde vor Ort ansehen. Aber auch vorm Fernseher werde ich die EM verfolgen. Ich bin ja nicht nur Trainer, sondern verfolge viele Spiele auch mit Sichtungs-Augen. Und am Ende bin ich ja auch Handball-Fan. Deshalb freue ich mich auf die EM. Voraussichtlich zehn Ihrer Kieler Spieler sind bei der EM im Einsatz. Machen Sie sich Sorgen um Verletzungen? Das werde ich sicherlich nicht laut sagen – dann verletzt sich immer einer (lacht). Wir in diesem Verein stehen hinter unseren Spielern. Ich kann beides verstehen, wenn sie sich für oder gegen einen Nationalmannschaftseinsatz entscheiden. Weniger nachvollziehen kann ich, wenn jemand angeschlagen zu einem Turnier fährt. Und zwar, weil ich das selbst erlebt habe. Dort holst du dir kein Selbstvertrauen, wenn du mit Verletzungen zu tun hast. Dann macht es dich nur noch mehr kaputt. Ich gebe meinen Spielern meine persönliche Erfahrung mit auf den Weg. Am Ende entscheiden sie aber selbst. Und ich unterstütze jede Entscheidung. Sind Sie als Tscheche Fan der tschechischen Nationalmannschaft? Ich bin Fan von den Freunden, die dort spielen, aber sicherlich nicht vom tschechischen Handballverband. Mit dem bin ich nicht so gut auseinander gegangen. Ich kenne auch gar nicht mehr so viele tschechische Spieler. Eher die Trainer Jan Filip und Daniel Kubes, die zwei meiner besten Freunde sind, Martin Galia, der wahrscheinlich noch in 30 Jahren spielen wird, und Pavel, der hier in Kiel spielt. Apropos Pavel Horak: Der unterschreibt ja nur noch Einjahresverträge. Haben Sie mit ihm schon über ein mögliches weiteres Jahr in Kiel gesprochen? Das haben wir noch nicht. Aber es wird sicherlich Gespräche geben. Heißt das, dass Sie sich freuen würden, wenn er noch ein Jahr dranhängt? Alles, was ich dazu sage, würde als Tendenz aufgefasst. Deshalb möchte ich das derzeit nicht kommentieren. Wie verbringen Sie die Zeit bis zum EM-Beginn? Nach dem Lemgo-Spiel packe ich meine Sachen und fahre wieder zu meiner Familie nach Pilsen. Dort verbringen wir vier Tage, dann fahren wir in die Berge in die Schweiz. Dort habe ich ja auch ein Stück Vergangenheit. Die Kinder sind begeisterte Skifahrer und ich mag es auch – auch wenn mein Knie nach ein, zwei Tagen dick sein wird. Aber ich weiß, dass ich da ganz schnell wieder Kraft tanken werde. Haben Sie gute Vorsätze oder Wünsche für 2020? Ich wünsche mir, dass meine Familie gesund bleibt und wir das verfolgen, was uns Spaß macht. Da sind wir privilegiert. Ansonsten brauche ich eigentlich sehr wenig zum Leben. Ich werde 2020 alles geben, damit der THW Kiel erfolgreich ist. Manchmal muss ich mich daran erinnern, dass Sport nicht alles ist im Leben. Man muss irgendwie eine gesunde Basis haben, um nicht verrückt zu werden. Wenn man verrückt wird, kann man nicht führen und lenken. Vielleicht ist das ein guter Vorsatz: 2020 nicht verrückt werden (lacht). Und ich würde sehr gerne mehr Sport machen. Ich habe einen Kraftraum acht Meter von meinem Büro entfernt, sitze aber von morgens bis abends am Schreibtisch. Selbst wenn ich die Möglichkeit habe, arbeite ich lieber. Und wenn ich mich aufraffe, tut einiges weh, dann macht es erst gar keinen Spaß. Aber wenn ich dann dabei bin, merke ich, dass es toll ist. 2020 wäre eigentlich ein guter Start, um wieder mehr Sport zu machen. Interview: Tamo Schwarz und Merle Schaack Alle Nachrichten über den THW Kiel lesen Sie hier.

Vorsatz des THW-Kiel-Trainers - Filip Jicha will 2020 "nicht verrückt werden"